Die Gauklerin von Kaltenberg
etwas Räu cherfischdrauf. Auf der Plattform über dem Wasser fingerte sie dankbar das helle Fleisch aus der Haut. Der vertraute Geschmack erinnerte sie an ihre Kindheit.
Die Nacht war noch warm, und der Vollmond warf einen hel len Schein auf das Wasser. Anna fühlte sich wie eine Pilgerin auf dem Weg nach Hause. Noch immer galt sie in Kaltenberg als ver urteilte Hexe, aber sie dachte kaum daran. Zuallererst musste sie verhindern, dass der Hass zwischen Raoul und Ulrich mit dem Tod eines der beiden Männer endete. Manchmal hatte sie sich ge fragt, ob Ulrich inzwischen Kinder hatte, oder eine andere Ge liebte. Und wie viele Menschen, die sie kannte, würden nach den Hungerjahren überhaupt noch leben?
Nur das Glucksen der Wellen durchbrach die Stille. Am ande ren Ufer glänzten die Lichter der Dörfer, und auf dem Wasser blinkten die Fettlampen der Fischer auf. Der Sohn ihres Fähr manns musste gut achtzig Jahre auf dem krummen Rücken haben, der Alte an die hundert. Zumindest wirkten sie so, auch wenn sie wahrscheinlich eher fünfunddreißig und fünfzig waren. Das Boot befand sich in keinem besseren Zustand, was Anna nicht gerade beruhigte. In all den Jahren hatte sie nicht schwimmen gelernt – der bloße Gedanke, in einen Fluss oder einen tiefen See zu stei gen, war ihr unerträglich. Besorgt betrachtete sie die morschen Holzbretter, die bei jedem Ruderschlag ächzten. Vermutlich hielt nur noch jahrzehntealter Dreck die Bohlen überhaupt zusammen. Endlich stieß das Boot auf Grund, und sie sprang ins knietiefe Wasser.
Sie watete ans Ufer. Eine kleine Basilika schälte sich aus der Dunkelheit, die Seekapelle. Anna atmete tief auf, und ihre Kehle war eng. Sie war weiter in der Welt herumgekommen als die meis ten Frauen, und es war gut gewesen. Aber nach all den Jahren wie der hier zu sein, wo sie geboren war, erfüllte sie mit einem tiefen Glücksgefühl. Sie war zu Hause.
Für einen Augenblick vergaß sie alles andere. Laut lachend warfsie den Kopf in den Nacken und drehte sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis. Sie stieß eine Folge von schrillen Jodeltönen aus, lachte, weinte gleichzeitig und fiel auf die Knie. Ihre Hände gruben sich in den kühlen Boden. Manchmal hatte sie nicht mehr daran geglaubt, aber jetzt war sie wirklich hier. Sie war zu Hause.
Von hier aus war es nicht mehr weit. Anna hätte ohnehin kei nen Schlaf gefunden, also lief sie die wenigen Stunden nach Kal tenberg. Als sie Dürnast hinter sich ließ und den Burgberg über dem Paarursprung erkannte, kämpfte sie mit den Tränen. Jahre lang hatte sie sich nach dem Ort gesehnt, wo sie geboren war. Nichts schien sich verändert zu haben, alles hier war so unendlich vertraut. Wenige hundert Schritt weiter unten lag die Hütte ihrer Eltern mit der Schmiede. Sie erinnerte sich an das warme Knacken des allgegenwärtigen Feuers und die Geborgenheit in dem dunk len erdfarbenen Raum. Leitern lehnten an den Apfelbäumen auf der Obstwiese, es war Erntezeit. Im Herrenhof am Hang hatten Sibylles Eltern gedient, als Kind hatte sie dort beim Gänsehüten geholfen. Und am Dorfanger bei dem Rosenhag hatte Ulrich sie zum ersten Mal geküsst. Jeder Stein hier erzählte eine Geschichte, trug eine Erinnerung.
Als sie in die Dorfstraße einbog, schlugen die Hunde an und lie fen ihr laut bellend und knurrend entgegen. Anna blieb stehen. Sie hatte nicht einmal einen Knüppel bei sich.
Einer der Kläffer richtete die Ohren auf und wedelte mit dem Schwanz – »Tristan!«, rief Anna leise. Vor Jahren hatte sie ihn ge funden und aufgepäppelt. Aber der Hund ihres Vaters hatte ihn verbissen, und so hatte sie ihn Lena geben müssen – der Häuslers tochter, die sie zuletzt als hungerndes Kind auf der Burg gesehen hatte. Der Hund hatte sie erkannt und sprang schwanzwedelnd an ihr hoch. Lachend und gleichzeitig weinend umarmte sie ihn und vergrub ihr Gesicht in dem zottigen Fell.
»Ruhig!«, rief eine Frau. Eine Tür öffnete sich einen Spalt, und einblonder Kopf sah heraus. Hinter ihr wurde die Gestalt eines Mannes mit einem Knüppel sichtbar. »Wer ist denn da?«
Überrascht sah sie von dem Hund zu dem nächtlichen Gast. »Anna?«, fragte sie zögernd. »Das ist doch nicht möglich!«
»Lena!« Die Tochter des Häuslers war noch immer mager, aber sie wirkte gesund. Jetzt trug sie nur ihr Unterkleid, und das Haar war offen, aber in der braunen Bauerntracht und mit ordentlich ge flochtenem Zopf sah sie wahrscheinlich hübsch aus. Lachend umarmten sie sich.
»Komm
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