Die Gauklerin von Kaltenberg
rein«, sagte Lena und zog sie in die Hütte. »Geh lieber nicht zu deinen Eltern. Mag sein, dass sie es nicht so meinen, aber sie haben die letzten Jahre nie von dir gesprochen. Und wenn, dann so, als wärst du tot.«
Anna kämpfte gegen ein trockenes Gefühl in ihrer Kehle an. Keine Familie hätte eine Tochter aufgenommen, die offen als Hure eines adligen Herrn und als Gauklerin gelebt hatte. Trotzdem tat es ihr weh. Vielleicht würden ihre Eltern sie irgendwann verste hen. Aber es würde Zeit brauchen, wenn sie die Schande über haupt je vergaßen.
Sie stiegen die Stufen in den einzigen Raum hinab. In der Ecke schliefen ein paar Kinder, vermutlich Lenas jüngere Geschwister. Nach den Jahren auf der Straße, in Klöstern und am Hof eines Bischofs kam ihr die Kate winzig vor. Zugleich war alles unendlich vertraut.
»Du giltst hier immer noch als Ketzerin«, redete Lena weiter. »Aber morgen beginnt der Turnierfriede. Dann müssen Fehden und Rechtssachen ruhen, und niemand kann dir etwas anhaben.«
Anna erschrak. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass das Turnier so bald schon beginnen würde. Andererseits war es beruhigend zu wissen, dass sie sicher war. Dankbar streckte sie die schmerzenden Füße aus. Der dunkelhaarige Mann war um einiges älter als Lena, sicher schon an die dreißig. Aber er behandelte sie offenbar gut, und er hielt sich an die ungeschriebenen Gesetze derGastfreundschaft. Ohne über den nächtlichen Besuch zu murren, legte er die Tischplatte auf die Böcke. Erst jetzt merkte Anna, wie müde sie war.
»Ich versorge jetzt das Haus«, sagte Lena, während sie Brot und Dünnbier brachte. »Meine Eltern sind tot. Tagsüber schufte ich wie eine Sklavin auf der Burg. Aber es macht mir nichts aus, ich kann meine Geschwister durchbringen. Und Peter«, sie warf dem Mann einen zärtlichen Blick zu, »Peter arbeitet auch dort oben.«
Hungrig griff Anna nach dem Brot. Sie hatte zwar erst gestern Abend gegessen, aber der Fußmarsch war lang gewesen. Tausend Fragen nach Ulrich lagen ihr auf den Lippen, und sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
Lena erriet ihre Gedanken. Sie zögerte, als sei sie nicht sicher, ob Anna auch hören wollte, was sie zu sagen hatte. »Ulrich hat sich verändert«, bemerkte sie vorsichtig. »Oh, er verhält sich wie ein Ritter, aber früher gefiel er mir besser. Die Waffenknechte sagen, bei der Belagerung von Weikersheim hat er seine Männer völlig unnötig sterben lassen, weil er die Burg unbedingt erobern wollte. Und jetzt das Turnier! Du wirst die Burg nicht wiedererkennen, sage ich dir. Ein kleines Fest für seine Nachbarn wäre schon ziem lich viel in diesen Zeiten, aber er will dem König etwas bieten. Seit er vom Kreuzzug aus Litauen zurück ist, hält er sich für einen gro ßen Herrn.«
»Kreuzzug?« Es war unter jungen Rittern Mode, sich an den Kreuzzügen des Deutschen Ordens gegen die heidnischen Litauer zu beteiligen. Aber dass Ulrich mit ihnen geritten war, hatte Anna nicht gewusst. Es passte nicht zu ihm.
»Beutezug unter wehrlosen Bauern würde besser passen«, mischte sich der schwarzhaarige Mann ein. »Ruhm und Reichtum erwerben, ohne seine hübsche Nase zu wagen. Seine eigenen Leute dürfen währenddessen verhungern. Wenn ich nicht eine Kuh hätte, wären wir viel schlechter dran. Und selbst die wollte er uns schon unter einem Vorwand wegnehmen.«
Annawollte etwas einwenden, aber sie unterbrach sich. Wie gut kannte sie Ulrich noch nach all den Jahren? Und hatte sie ihn überhaupt je wirklich gekannt?
Lena griff plötzlich über den Tisch nach ihrer Hand. »Wenn du damals nicht gewesen wärst, wäre ich gestorben. Mit dem gestoh lenen Honigtopf hast du uns das Leben gerettet.«
»Dann lasst das mal bloß das adlige Pack da oben nicht wissen«, meinte Peter und stand auf, um einen neuen Krug zu holen. »Sonst will er den auch noch von uns zurück!«
Dankbar sah sich Anna um. Die mit Lehm verputzten Wände gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit. Am liebsten hätte sie gleich um einen Strohsack gebeten, wo sie schlafen konnte. Aber eine Frage brannte ihr noch auf den Lippen. »Ist Raoul hier?«
»Der schwarze Ritter?« Lena erinnerte sich sofort an ihn. »Ich weiß nicht. Gesehen habe ich ihn noch nicht, aber es kommen je den Tag Leute an.«
Anna trank nachdenklich ihr Bier aus. Sie konnte nur beten, dass sie rechtzeitig gekommen war. Ulrich und er durften sich nicht im Kampf begegnen.
7
»Blendet sie!«, kreischte ein altes Weib. »Gesindel,
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