Die Gauklerin von Kaltenberg
sein, ohne Gesetze, die sie schützten, ohne ein Zu hause, in das sie zurückkehren konnte. Jeder konnte sie töten oder zur Notzucht zwingen. Es bedeutete, ausgeschlossen zu sein von der Gemeinschaft, die sie ihr Leben lang getragen hatte, ausge schlossen von Heil und Seligkeit – verloren.
Unvermitteltging sie auf ihn los. Mit bloßen Fäusten schlug sie auf ihn ein, trat und schrie Worte, die sie selbst nicht verstand. Trä nen liefen ihr übers Gesicht, es war, als müsse sie noch einmal auf ihr zerstörtes Dorf sehen. Der ohnmächtige Hass erstickte sie fast.
Raoul packte sie und zog sie zu sich heran. Anna stockte der Atem. Sie fühlte seinen Waffenrock unter den Fingern, die warmen Muskeln auf seiner Brust. Er sah ihr in die Augen, und ein glühen der Fieberschauer jagte durch ihren Körper.
»Gewöhne dich besser daran, dass du keinen Beschützer mehr hast.« Das kalte Lächeln zuckte wieder um seinen Bart, als er nach setzte: »Abgesehen von mir!«
3
In der Nacht begann Anna wieder zu fiebern. Mit weit geöffneten Augen sprach sie unzusammenhängende Sätze. Maimun ver suchte sie warm zu halten und flößte ihr Lindenblütenaufguss ein. Doch auch am nächsten Tag schienen ihre Augen mit jeder Stunde tiefer in den Höhlen zu liegen, und die Adern schimmerten bläu lich durch die Lider. Rote Flecken bedeckten die durchscheinende Haut, und ihre Lippen platzten auf. Gegen Abend kam Raoul von seinem üblichen Ritt zurück.
»Mach schnell!«, rief er Maimun in seiner Muttersprache zu. »Die Knechte der Rohrbacher!«
Er sprang vom Pferd, und hastig rafften die Männer zusam men, was ihre Anwesenheit verraten konnte. Raoul warf die Satteltaschen über den Rücken seines Pferdes. Mit den Stiefeln trat er das Feuer aus und schob die toten Blätter darüber, die überall den Boden bedeckten. Maimun hatte Kochgeräte und Decken in einen Teppich gerollt und hinter seinem Sattel verschnürt, dann hob er Anna auf. Sie war ohne Bewusstsein.
»Sie wird es nicht schaffen«, warf er seinem Herrn zu. »Wenn wir sie verstecken …«
»Nein!«, erwiderte Raoul scharf. »Sie haben Hunde, sie würden sie finden.« Er stieg auf seinen tänzelnden Rappen und streckte den Arm aus. Maimun hob das Mädchen zu ihm aufs Pferd. Sie war erschreckend leicht, dachte Raoul. Als sie seufzend den Kopf an seine Schulter legte, durchlief ihn ein Schauer. Er warf einen Blick zurück, dass ihm das schwarze Haar in die Stirn fiel, und gab seinem Tier die Sporen.
Keinen Augenblick zu früh. Kaum waren die beiden Reiter außerSichtweite, erreichte ein Trupp Waffenknechte den Lagerplatz. Mit geifernden Lefzen wühlten die Hunde ihre Schnauzen in den Boden, wo eben noch Annas Decke gelegen hatte. Sie nahmen die Fährte der Pferde auf, und zerrten an ihren Leinen. Der Anführer lachte und gab seinen Männern ein Zeichen.
In vollem Galopp hetzten Raoul und Maimun durch das ra schelnde Laub. Es bedeckte den Boden und machte jeden Pfad auf dem unter den Hufen hinwegfliegenden Boden unsichtbar. Wenigstens schien die Sonne fahl, so dass sie sich halbwegs ori entieren konnten.
Raoul zügelte das Pferd, und das Sattelzeug flog bei der abrup ten Wendung um seine Beine. Wie durch ein Wunder waren die Tiere nicht in Löcher oder auf Wurzeln getreten. Anna lag be wusstlos an seiner Brust, ihr flacher Atem strich über seinen Hals. Der Wind wehte einzelne Fäden aus ihrem rotgoldenen Haar auf seine Cotte. Seine Hände in den schwarzen Lederhandschuhen krampften sich fester um die Zügel, mit dem linken Arm hielt er den glühenden Körper des Mädchens an sich gepresst. Zwischen den Bäumen erkannte er die ausgebrannte Hütte eines Wald bauern. Rufe und Hundegebell hinter ihnen bewiesen, dass die Waffenknechte ihnen auf den Fersen waren. Wortlos wies er nach Osten, und die Männer sprengten weiter.
Der Wald war größer, als Raoul ihn in Erinnerung gehabt hatte. Von den Mäulern der Pferde triefte der Schaum, als sie endlich Licht durch die Bäume schimmern sahen. Bienenkästen am Wald rand verrieten, wo sie waren. Im Süden hoben sich die Berge weiß und dunkelblau vom sturmzerrissenen Himmel ab. Eine kleine Scheune stand auf der Wiese, dahinter floss die Paar. Rücksichts los trieben sie die widerstrebenden Tiere ins Wasser. Obwohl der Pegel gesunken war, spritzte es hoch auf, als die beiden Reiter den Bachlauf entlang nach Süden galoppierten.
Einunverkennbares Männerparfüm mischte sich in Annas Fieber träume. Ihre Lider flatterten. Ihre Hand
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