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Die Gauklerin von Kaltenberg

Titel: Die Gauklerin von Kaltenberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Freidank
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die im Widerspruch zu seinen Worten stand, betastete er Raouls verletzte Schulter. Obwohl das Wasser aus dessen Haar rann und die Kälte ihn schüttelte, bewegten sich die harten Muskeln normal. Brust und Bauch, wo ihn die Knechte getreten hatten, reagierten nicht mehr übermäßig auf Druck. Die blauen Flecken würden ihm zwar noch bleiben, aber er blutete nicht von innen.
    Mit bleichem Gesicht sank Raoul zurück. Seit Tagen unrasiert, ließ ihn der dunkle Bart noch düsterer wirken, als er ohnehin in den letzten Monaten geworden war. Er würde sich Kaltenberg nicht aus dem Kopf schlagen, dachte Maimun beunruhigt.
    »Ulrich wird bereuen, was er getan hat«, flüsterte Raoul. »Ich werde den Namen meines Vaters aus ihm herausbekommen.«
    Maimun kannte ihn lange genug, um ihn ernst zu nehmen. »Geht es dir noch um deinen Vater?«, fragte er ernst. »Oder um Ra che?«
    Nur das Rauschen des Regens und das saugende Gurgeln des Wassers durchbrach die Stille zwischen ihnen. Raouls Lippen hat ten die Farbe verloren. Mit dem wirren Haar und den durchschei nenden geschlossenen Lidern wirkte er verletzlich, aber in einer Weise, die bedrohlich war. Maimun glaubte schon, er hätte wie der das Bewusstsein verloren, da flüsterte er gepresst: »Und um Anna werde ich mich auch kümmern!«

12
    Es war tiefer Winter, als die Gaukler wieder vor den Toren Mün chens standen. Obwohl die anderen sie seit dem Auftritt vor der Königin mit anderen Augen sahen, hatte es Anna nichts geholfen. Von der gelassenen Stimmung war nichts mehr übrig. Ohne Grund brüllten sie sich gegenseitig an. Vorübergehend fanden sie Unter schlupf in einer Hofmark namens Schwabing, doch Falconet trieb sie weiter nach Norden. Was alle befürchtet hatten, war eingetrof fen: eine Hungersnot.
    Bei schneidender Kälte zogen sie durch das Erdinger Moos: ein Sumpfgebiet mit schwarzen Seen und tückischen Moorlöchern, über die Irrlichter huschten. Längst gab es keine Eicheln und Holzäpfel mehr, und die Bauern hielten ihr Federvieh zusammen. Sie lösten Mehl in Wasser auf, aber trotzdem kam Anna morgens kaum auf die Beine. Ständig hatte sie ein trockenes Gefühl im Mund. Resi und Korbinian, Evas Kinder, hatten es aufgegeben zu quengeln. Nur ab und zu klagte die Kleine noch leise über Kopf schmerzen, aber von Tag zu Tag wurde sie bleicher und teilnahms loser. Früher hatte Anna Gaukler für Menschen gehalten, denen andere nicht viel bedeuteten. Aber als sie sah, wie Eva fast alles Es sen ihren Kindern gab, zog sich alles in ihr zusammen.
    »Ich bin eine schlechte Mutter«, sagte Eva tonlos.
    Anna nahm sie in die Arme. Sie konnte die Angst nachfühlen, noch ein Kind zu verlieren. Selbst sie konnte Resi kaum ansehen, ohne mit den Tränen zu kämpfen. »Du bist eine gute Mutter«, ver suchte sie Eva zu trösten. Es war das Einzige, was sie für sie tun konnte. Der Hunger bohrte in Annas Körper, aber dann schob sie wortlos ihren Napf den Kindern hinüber.
    Überallin den Sumpfwiesen stießen sie auf niedergebrannte Dörfer. Die Bewohner anzubetteln hatte keinen Sinn, die meisten waren froh, wenn sie selbst über den Winter kamen. Anna sehnte sich verzweifelt nach Ulrich. Sie hatte so gehofft, ihn in München zu finden. Aber so wie sie jetzt aussah, würde er sie kaum wieder erkennen. Verlaust und abgerissen, erinnerte nicht mehr viel in ihrem ausgemergelten Gesicht an das Mädchen mit den glänzend roten Locken. Manchmal ertappte sie sich sogar bei dem Gedan ken, sie hätte bei Raoul bleiben sollen. Was wohl aus ihm gewor den war?
    »Arme Teufel«, sagte Falconet und wies auf ein paar zerlumpte Gestalten, die man vor einem Erlenwäldchen aufgehängt hatte. »Vermutlich haben sie gewildert. Wenigstens jetzt, nach der schlech ten Ernte, könnten die hohen Herren ein Auge zudrücken. Sie selbst sind doch fett und satt, genau wie die verfluchten Getreide spekulanten, die die Preise hochtreiben.«
    Wenn Anna von da an die Schlinge für Wildkaninchen auslegte, sah sie sich ängstlich um. Natürlich wussten sie, dass Wildern und Fischen streng verboten waren, aber was sollten sie tun? Allerdings gab es ohnehin nichts mehr zu fangen. Sie waren froh, wenn sie auf einem abgeernteten Acker noch ein paar angefaulte Rüben oder den Kadaver einer Krähe fanden.
    Wenige Meilen weiter nördlich stießen sie auf einen Menschen. Ein Mann stand über etwas gebückt und richtete sich auf, als er sie bemerkte. Unter dem langen Haar lagen die Augen tief in dunk len Höhlen, die Lippen

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