Die Gefährtin des Medicus
keinen Unterschied, ob sie mit Aurel kam oder ohne ihn.
Doch die Menschen, die sich vor Giacintos Haus versammelt hatten – sie erkannte einen seiner Köche, einige Mägde aus der Backstube und ein paar junge Männer aus dem Gefolge – erwarteten sie aufgeregt.
Später erfuhr sie, dass Wetten darauf abgeschlossen worden waren, ob ein bekannter Medicus wie Aurel den hoffnungslosen Fall noch wenden konnte oder nicht. Die einen waren der Meinung, dass Gott sterben ließe, wem er solch eine Wunde zugefügt hatte. Andere hingegen führten an, dass Aurel immerhin der Leibarzt des Papstes war, solcherart von Gott also durchaus gesegnet.
Alaïs huschte mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei, hörte nur, dass Roselina lebte, und biss sich die immer noch tauben Lippen blutig, ehe sie jenes Zimmer betrat, in dem sie einst Roselinas Wunde behandelt hatte – eine so viel harmlosere.
Mit geducktem Schädel trat sie ein, achtete nicht auf Marguerite, sondern fixierte das bleiche Kind. So energisch schritt sie auf sie zu, als wäre sie selbst Aurel – und darum nicht etwa entsetzt und betroffen, sondern vielmehr angezogen von einer ungewöhnlichen Verletzung und besonderen Herausforderung.
Als hätte sie dergleichen tausendfach getan, griff sie nach demHandgelenk des Mädchens, fühlte den Puls. Er war schwach, flackerte. Täuschte sie sich, oder wurde er zunehmend noch schwächer? Roselinas Augen waren geschlossen, das Gesicht weißer als sonst, die Adern an den Schläfen dunkler, nicht wie geringelte Würmer, sondern wie Risse in hellem Ton. Ihre Hände waren eiskalt, ihre Füße ebenso, und in ihrem Nacken stand kalter Schweiß.
Als Letztes blickte Aläis auf ihre Leibesmitte, dorthin, wo der Splitter steckte. Das Blut floss nicht mehr frisch und hell, sondern war zu einer dunklen, klebrigen Masse gestockt.
»Wo ist Aurel?«, schrie Marguerite. »Wo ist Aurel Autard?«
Schweigend ließ sich Alaïs nieder, tat, als hätte sie die Frage überhört, obwohl das schlicht unmöglich war. Nie hatte Marguerite dermaßen durchdringend geschrien, nie dermaßen schrill. Mehrfach wiederholte sie die Frage – und dann, dann war es plötzlich still. Sie hatte die Antwort an Aläis' Gesicht abgelesen. Das Schweigen, das folgte, war fast noch schmerzhafter, machte es Alaïs unmöglich, Roselina ein zweites Mal zu berühren. Mehrfach hob sie die Hand, um ihren Puls zu ertasten, aber jedes Mal zuckte sie zurück. Sie wusste nicht genau, was ihr die Scheu auferlegte – fand sie es unangemessen, Aureis Platz einzunehmen, weil es nicht über ihr Versäumnis hinwegtäuschen konnte, ihn hierher zu bringen? Oder hatte sie Angst, den Tod des Kindes festzustellen?
Einzig ihr Blick war weniger zögerlich, fixierte erneut die Wunde am Leib, stellte fest, was sie nicht auszusprechen wagte. Daran stirbt sie. Es gibt Wunden, die sind heilbar – und es gibt solche, die sind unheilbar.
Zu Letzteren – sie hatte den Klang von Aureis Stimme im Ohr, wahrscheinlich hatte er es irgendwann einmal ausgesprochen, als er sezierte – zu Letzteren gehörten Verletzungen an der Leber und der Gallenblase, an den Nieren, dem Uterus oder dem Magen.
»Du musst sie wach halten!« Diesmal schrie Marguerite nicht, sondern flüsterte. »Bitte, lass sie nicht einschlafen! Der Schlaf und der Tod sind doch Brüder.«
»Ich … «, stammelte Alaïs, »ich … «
Sie kannte Mittel, eine drohende Ohnmacht zu vermeiden. Man konnte dem Kranken aufs Ohr schlagen, seinen Namen schreien, eine Feder in seinen Mund stecken, auf dass er würgte.
Aber sie wusste nur allzu gut, dass eine schwache Natur keine Behandlung vertrug. Auch das hatte Aurel irgendwann einmal gesagt, irgendeinen der vielen ärzte zitierend, in deren Tradition er sich wähnte. »Wir könnten versuchen, die Schmerzen zu lindern. Du musst Wein mit Wasser aufkochen und Hafer hinzurühren, in einen kleinen Sack geben und ihn auf … auf …«
Auf die Wunde legen, hatte sie sagen wollen, aber das konnte sie nicht, obwohl sie immer noch darauf starrte. Sie blickte auch dann nicht hoch, als Marguerite sich erhob und nach einer Weile mit dem Geforderten wiederkehrte. Nicht dann, als Giacinto Navale plötzlich in der Tür erschien und fragte, was geschehen sei. Sie sah ihn nicht an, und sie hörte nicht zu, als Marguerite es ihm berichtete.
Schließlich bedeckte sie die Wunde mit dem Haferpflaster. Mehr konnte sie nicht tun, konnte nur warten, zusehen, wie die Zeit versickerte und Roselinas Leben schwand.
Alaïs
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