Die Gefährtin des Medicus
seinen Schultern genommen und trug sie nun auf dem Arm. Sie quengelte wieder missmutig anstatt zu juchzen. »Das hat Zeit bis später«, erklärte er knapp.
Nie hatte Alaïs in den letzten Jahren darüber nachgedacht, wie Emy zu seinem Bruder stand. Sie selbst hatte es ja ihrerseits nicht tun wollen, nicht überprüfen, ob ihr Hass oder ihre Sehnsuchtnach Aurel größer waren. Jetzt erst erfasste sie, dass Emy ihm nicht verziehen hatte.
Na und, ging es Alaïs trotzig durch den Kopf, und die Erinnerung an die Zeit, da Aurel vor allem Veränderung und Freiheit gebracht hatte, war stärker als jene, da seine Besessenheit von der Chirurgie sie nur mehr gelangweilt hatte. Na und, er hätte sich ja nicht fügen müssen …
»Du musst uns mehr erzählen!«, sagte sie an Aurel gewandt.
»Siehst du nicht, dass das Kind müde und hungrig ist?«, zischte Emy.
Noch nie hatte er in einem derartigen Tonfall mit ihr geredet. Überrascht wandte sie sich ihm zu – im gleichen Augenblick, da auch Aureis Augen auf den Bruder glitten, ihn maßen und schließlich bei dem schwarzhaarigen Mädchen hängen blieben. Rasch senkte er den Blick. Doch da trat Emy mit dem Kind direkt vor ihn, sodass er gar nicht anders konnte, als es noch einmal anzuschauen.
»Das ist Raymonda«, erklärte Emy. »Und sie ist meine Tochter.«
Pio Navale hatte wenig mit seinem Bruder gemein. Giacinto zog es vor, seine Hände stets an der Geldbörse zu haben, immer wieder aufs Neue zu ertasten, dass er nicht arm war, und zugleich waren seine Augen stets flink und wach geblieben, um keinen Menschen zu unterschätzen und keine gewinnbringende Situation zu übersehen.
Pio Navales Blick hingegen rutschte, auch wenn er sein Gegenüber anblickte, oftmals ins Weiße, was einen furchterregenden Eindruck machte und davon kündete, dass er wohl lieber sah, was er sich in seinem Kopf ausmalte, als das, was unmittelbar vor ihm lag. Er war einer, der noch über das kleinste Hindernis stolperte, versehentlich Wein ausschüttete, weil er mit der Hand gegen den Kelch stieß, und regelmäßig seine Speisen auf die Kleidung tropfen ließ. Als Alaïs ihn beobachtete, wie er mit seinem hölzernen Löffel durch die Luft fuchtelte, anstatt ihn inden Mund zu stecken, musste sie an Aureis Gewohnheit denken, das meiste stehen zu lassen.
Aurel hatte sie zum ebenso lärmenden wie stinkenden Hafen geführt und dort in eine Taverne, in der der Wein – und Schweißdunst noch dichter hingen als in den Spelunken Avignons. Als sie den schwülen Raum betrat, konnte Alaïs fast nichts sehen. Doch so sehr die aufgedunsenen Gesichter sie zunächst abstießen, die dort grölend beisammensaßen, so sehr begannen doch zugleich ihre Beine zu zucken in Erinnerung daran, wie sie vor einem ähnlichen Publikum getanzt hatte.
Befremdend schien ihr Aureis Gegenwart an diesem Ort, den dieser allerdings ganz selbstverständlich betrat, und als sie die Mitte des Raums erreichten, blieb sie erstmals zögernd stehen und sah sich nach Emy um. Jener – er trug Raymonda, die stumm und mit aufgerissenen Augen die fremde Welt bestaunte, in die sie da geraten war – hatte auf Aureis Einladung, sie Pio Navale vorzustellen, ebenso verhalten reagiert wie auf das plötzliche Erscheinen seines Bruders. Doch er hatte sie nicht zurückgewiesen, auch wenn er nun den Eindruck machte, er würde sich am liebsten selbst dafür verfluchen. Einzig Ray hatte sich nicht bestechen lassen, sondern der Weite des Hafens und des sich verdunkelnden Himmels dem Vorzug vor einem stickigen, engen Raum gegeben.
»Nicht stehen bleiben!«, rief Aurel ihm lachend über die Schultern zu. »Kommt nur weiter! Und seid unbesorgt, wir bleiben nicht hier in der Schankstube!«
Dann führte er sie bereits eine knarzende Treppe nach oben, wo es – Alaïs hätte nicht erwartet, über einer rauchigen Taverne dergleichen vorzufinden – einige hohe, aufgrund großer Fenster lichte Räume gab, die offenbar der Unterbringung von großzügig zahlenden Gästen dienten.
»In Marseille wird Navales Schiff beladen … für die lange Reise brauchen wir schließlich viel Proviant!«
Wieder warf Alaïs einen ratsuchenden Blick auf Emy. Ob er ahnte, woher Aureis begeisterte Stimme rührte? Was hatte er mit Pio Navale, Giacintos Bruder, zu schaffen? Alaïs verband mitdem Namen nicht viel, wusste nur, dass jener an den Wissenschaften interessiert war. Sie konnte sich nicht erklären, was das mit der großen Reise zu tun hatte, die er offensichtlich
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