Die Gefährtin des Medicus
Bruchstücken, sondern alles durch und durch erkennen wird?«
Es fiel Alaïs schwer, ihm zu folgen, und noch weniger wusste sie, worauf er hinauswollte. Sie sah, dass die Frau an Pio Navales Seite immer schmallippiger wurde, dass Aurel hingegen immer breiter grinste. Er wusste wohl, was Pio Navale sogleich hinzufügen würde.
»Nun, eines der Bücher, die in meiner Bibliothek standen, war das
Buch der Wunder.
Ein irreführender Titel, könnte man doch meinen, dass jener, der es geschrieben hat, ein gewisser Marco Polo, sich den Inhalt nur ausgedacht hat, um die Welt in möglichst großes Staunen zu versetzen. Ich hingegen – im übrigen habe ich die französische übersetzung gelesen – habe daraus viel gelernt. Nicht nur, dass es Länder jenseits unserer Welt gibt und dass dort Sitten und Gebräuche herrschen, wie wir sie uns nicht vorzustellen vermögen. Sondern darüber hinaus, dass die Erfahrungen, die der Mensch auf langen Reisen machen kann, ein kostbares Gut sind, ja, ein Schatz, den er auch lange nach der Rückkehr mit sich trägt, um ihn immer wieder aufs Neue anzublicken und sich an seinem Funkeln zu erfreuen. Marco Polo hockte im Kerker, als er seine Erinnerungen aufschrieb – und ich bin mir gewiss, dass ihm die Mauern nicht so eng dünkt en wie manchen Mitgefangenen, gab es selbige doch nicht in seinem Kopf.«
Er machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr. »Und ein anderes Buch habe ich gelesen, das mich nicht minder begeistert hat alsdas von Signore Polo. Aus der Feder des großen Raimundus Lullus stammt es, und man mag es auf den ersten Blick für ein Buch über die Seefahrt halten. Doch in Wahrheit ist es ein Buch über die Sprachen – und die Notwendigkeit, möglichst viele von diesen zu beherrschen. Seit Gott der Allmächtige den Menschen bestrafte, weil der seinen Turm zu Babel in dreiste Höhen baute, vermögen wir nicht mehr, in einer Zunge zu reden. Und wenn uns nicht der Heilige Geist – wie am Pfingstfest den Aposteln – die Macht verleiht, auch fremde Laute zu verstehen, müssen wir uns selbst die Mühe machen, sie zu erlernen. So rät es auch Raimundus Lullus: nämlich sämtliche Sprachen derer, die unseren Glauben noch nicht teilen, zu lernen. Und ich für meinen Teil denke, dass der klügste Mensch auf Erden nicht der ist, der sämtliche Bücher gelesen hat, sondern der, der sämtliche Sprachen spricht.«
Alaïs war erleichtert, dass seine lange Rede endlich beendet war.
»Und aus diesem Grunde wollt Ihr auf eine Reise gehen?«, entfuhr es ihr vorlaut. Sie konnte das, was Pio Navale wortreich erklärte, nicht einordnen. Bei jedem Satz, den er hinzugefügt hatte, hatte sie erhofft, mehr von dem zu erfahren, was Aurel angekündigt hatte: von jener Fahrt in ein fremdes Land. Stattdessen schwafelte er von Büchern, die ihr nie etwas bedeutet hatten, und von Sprachen, von denen sie immerhin einige beherrschte – wahrscheinlich jedoch nicht so viele wie dieser Mann.
Ob ihrer Frage drehten sich sämtliche Anwesende zu ihr um. Auch Pio Navale musterte sie nun eingehender, jedoch nicht streng ob ihres vorlauten Gebarens, sondern sichtlich erfreut, Neugierde erzeugt zu haben.
»Ja«, sagte er schließlich bedächtig und faltete seine Hände. Anders als sein Bruder bereitete es ihm keine überwindung, sie stillzuhalten. »Ja, dies ist einer der Gründe: fremde Sprachen zu erforschen. Und ein anderer ist, dass ich reich an jenem Schatz werden möchte, den ich vorhin erwähnte, als ich von Marco Polo im Kerker berichtete – dem Schatz der Erinnerung.«
Sein Bruder Giacinto hätte wohl laut geprustet. Das Trachtenhätte er verstanden, nicht aber dessen Ziel. Zu den vielen Gütern, mit denen er wuchern konnte – nicht nur Dinge, die man anfasste, sondern auch Menschen, die ihre dunklen Geheimnisse oder ihre reichen Talente zu außergewöhnlichen machten –, gehörte in seinen Augen gewiss nicht die Erinnerung.
»Und wohin soll denn nun Eure Reise gehen?«, fragte Alaïs.
Emy hatte sich zurückgelehnt, um Raymonda, die eingeschlafen war, eine möglichst bequeme Stellung zu ermöglichen. Er schien gar nicht hinzuhören.
Ehe Pio Navale antworten konnte, beugte sich seine Frau vor – die erste Regung, die Alaïs an ihr beobachtete. Selbst als sie den Löffel zum Mund geführt hatte, hatte ihr Kopf keinerlei Ruck nach vorne gemacht. »Das ist eine wahrlich gute Frage«, warf sie mit gehobener Braue ein und bekundete dadurch, dass es nicht zuletzt diese Reise war, die ihrem Gesicht jenen
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