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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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offenbar war er ihr freundlich gesinnt.
    »Simeon sagte mir, dass du viele Fragen stellst«, begann er. »Das ist gut. Der Mensch wird lebendig durch seine Fragen, nicht durch die Antworten, die er erhält.«
    Sie zuckte die Schultern. »Ich wollte nur wissen, ob …«
    »Du musst es nicht leugnen. Du bist neugierig, Kind, das gefällt mir.«
    Alaïs verbiss es sich, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass sie kein Kind, sondern eine Frau war, die immerhin schon zwei Mal geboren hatte. Allerdings schien Pio Navale sich so alt und erfahren zu fühlen, dass er wohl alle übrigen Menschen als Kinder betrachtete.
    »Wie viele Sprachen sprichst du, Kind?«, fragte er unvermittelt.
    Alaïs zögerte. »Okzitanisch wie meine Eltern. Ein wenig französisch. Den provençalischen Dialekt unseres Dorfs. Und mein Vater hat mir beigebracht, auf Italienisch zu zählen.«
    »Das ist zu wenig, viel zu wenig.«
    Alaïs schwieg hilflos, nicht sicher, auf was er hinauswollte.
    »Ich sage es immer wieder«, fuhr er darauf fort. »Alles wäre leichter auf der Welt, wenn alle Menschen alle Sprachen sprechen könnten – oder aber, wenn es nur eine einzige Sprache gäbe, die dafür jeder verstünde.«
    Er beugte sich tief über das Buch, das vor ihm auf dem Lesepult lag. »Raimundus Lullus hatte die Idee zu einer solchen Weltsprache«, fuhr er fort. »Aus arabischen, hebräischen und lateinischen Lauten müsste sie bestehen und jedem Kind von klein auf gelehrt werden, damit man sich überall verständigen könnte.«
    Da er auf das Buch blickte, nicht auf sie, nutzte sie die Gelegenheit, sich im Raum umzusehen. Die vielen Bücher köderten ihr Interesse kaum, umso mehr aber ein seltsames Ding, das auf jenem Tisch stand, an dem Navale saß. Es war ein kugelförmiges Gebilde aus poliertem Kupfer, Ebenholz und Elfenbein, in dessen Mitte eine Nadel saß und leicht zitterte.
    Pio Navale, gleichwohl noch immer über die Weltsprache sinnierend, war ihr Blick nicht entgangen. Bedächtig, nahezu ehrfürchtig strich er über das Gebilde.
    »Ein Kompass«, sagte er. »Er vermag selbst bei Sturm oder Nebel den Weg zu weisen.«
    Alaïs schwieg weiterhin. Sie hatte keinerlei Ahnung, was ein Kompass war, doch da er so selbstverständlich davon sprach, setzte er wohl voraus, dass sie von dergleichen schon gehört hatte.
    Neben dem Kompass lag ein großes Stück Pergament, nicht mit Buchstaben beschrieben, sondern mit vielen kleinen Kreisen und Strichen. Diesmal mochte sie sich nicht verkneifen zu fragen, was das sei.
    »Eine Seekarte natürlich!«, meinte er lächelnd. »Siehst du hier, die vielen Striche? Windstriche nennt man sie. Daraus entstehenRichtungslinien, und jene wiederum bilden ein Netz, das über bekannte Punkte läuft.«
    Alaïs verstand kein Wort von dem, was er sagte, aber er fuhr begeistert fort: »Um einen Punkt auf dem Meer zu bestimmen, benutzen die Seefahrer die im Zenit stehende Sonne und den Winkel, den sie auf einem Trigonometrie – Tisch bilden.«
    »Das heißt«, sagte sie, »dies hier ist ein Bild – ein Bild vom Meer, auf dem wir uns befinden.«
    »Und hier«, erklärte er, »hier ist die Karte zu Ende. Aber die Welt ist es nicht. Ich glaube, das ist die wahre Natur des Menschen, die ihn vom Tier unterscheidet und ihn zum Ebenbild Gottes macht: dass wir weiter denken als wir schauen können. Und darum macht es mir nichts aus, dass ich mittlerweile so schlecht sehe, denn ich kann ja immer noch weit denken.«
    Es war ihr neu, dass sein stets ins Weiße verrutschender Blick damit zu tun hatte, dass er die Sehkraft verlor.
    Plötzlich griff er nach etwas und hielt es sich vor die Augen, und als Alaïs es sah, entrang sich ihr ein verblüffter Ausruf. Neu waren ihr Kompass und Seekarte gewesen, dieses Gebilde wirkte jedoch noch befremdlicher.
    »Hast du das noch nie gesehen?«, fragte Pio Navale.
    »Was ist das?«
    »Ein gewisser Bruder Alexander della Spina fertigte dergleichen an. Er ist nun mehr als zehn Jahre tot, doch ich war einer der Wenigen, der es sich damals schon beschaffen konnte.«
    Zwei Gläser waren es, die sich Pio Navale vor die Augen hielt. Sie waren mit Holz eingefasst und mit einem Stück Horn aneinandergefügt. Als Pio Navale seinen Blick hob, wirkten seine Augen viel größer – und das Weiß, das hervorblitzte, noch unheimlicher.
    »Ich muss gestehen«, meinte er, »ich habe nicht den Eindruck, dass ich mit dieser … Brille besser lesen kann. Aber ich schätze das Trachten des Menschen, viel zu sehen, oder,

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