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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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wenn möglich, alles zu sehen. Wir sollten weder die Grenzen der Sehkraft hinnehmen noch die Grenzen der Welt.«
    Er ließ die Brille wieder sinken.
    »Deswegen mögt Ihr Aurel Autard, nicht wahr?«, fragte sie. »Weil er den ganzen Körper erkennen und durchschauen will, weil er sämtliche Krankheiten am liebsten sehen würde.«
    Ohne die Brille wirkten Pio Navales Augen plötzlich klein. »Du kennst Aurel Autard?«, fragte er.
    Sein Erstaunen spiegelte sich in Alaïs’ Blick.
    »Das wisst Ihr nicht?«, rief sie. »Aber warum sonst wäre ich hier? Ich war an seiner Seite, an jenem Abend in Marseille, beim Essen … Könnt Ihr Euch nicht erinnern? Ich war doch Euer Gast?«
    Er hob hilflos die Hände. »Unscharf … unscharf …«, stammelte er, bekundend, was sie immer schon geahnt hatte: dass er lieber in Büchern las, als in den Gesichtern der Menschen.
    »Ich dachte, er hätte mit Euch geredet. Auf dass ich Euch bei dieser Reise begleiten darf. Eure Frau …«, fast trotzig sagte sie das nun, »Eure Frau ist dankbar für meine Gesellschaft.«
    Bei Biancas Erwähnung huschte ein Ausdruck schlechten Gewissens über sein Gesicht. »Gewiss, gewiss«, sagte er schnell. »Ich hoffe, sie fühlt sich nicht ganz so verloren auf weiter See, weiß sie andere Weiber um sich. Was hingegen Signore Autard anbelangt: Nun, er redet viel mit mir. Aber ich kann mich nicht besinnen, dass dabei jemals ein anderer Name fiel als jene der großen ärzte. Ich glaube nicht, dass er jemals von dir geredet hat, mein Kind. Wenn du ihn freilich tatsächlich kennst, dann weißt du, wie er ist.«
    »Ja«, meinte Alaïs, und plötzlich schmeckte es schal in ihrem Mund. »Ja, das weiß ich wohl.«
    »Wie es auch sei«, meinte er begütigend, ehe er sie entließ. »Wann immer du Fragen hast – mir kannst du so viele stellen, wie du willst.«
     
    Die Abendsonne spiegelte sich im Meer und krönte die Wellen mit weichem Licht anstelle von spitzer, weißer Gischt. Der Wind wehte lau und vermochte doch, Alaïs Haare hochzuwirbeln.
    Sie fand Aurel versunken in der Nähe des Hauptmastes und – wie sie feststellte, als sie näher trat – irgendwie verdrossen.
    »Bis auf die Seekrankheit sind alle leidlich gesund«, stellte er fest, als wäre dies eine persönliche Kränkung.
    Woher nimmt er das?, fragte sich Alaïs, und wieder schmeckte es schal in ihrem Mund. Woher nimmt er das Recht, so ungeduldig zu sein? Die Erwartung, alle Welt müsste ihm mit Wunden und Schmerzen zu Diensten sein?
    Als sie seine verdunkelte Miene musterte, gewahrte sie, dass er nicht nur älter und ausgezehrter aussah als einst in Avignon, sondern dass seine früher kindliche Ungeduld nun den Anstrich von Hader und Entrüstung trug. Mochte ihm beides auch früher nicht gänzlich fremd gewesen sein, erst jetzt hatte es tiefe Falten gegraben und den Zug um seinen Mund erkalten lassen.
    »Navale weiß nicht, dass du und ich … zusammengehören.« Es klang merkwürdig, und rasch setzte sie hinzu, »irgendwie … zusammengehören«.
    Sie wusste ja selbst nicht, auf welche Weise. Wusste desgleichen, dass sie kein Bekenntnis seinerseits brauchte – Pio Navale war auch ohne selbiges freundlich zu ihr gewesen. Und doch ließ der Groll nicht nach, dass er so wortreich die Reise gepriesen und sie dazu eingeladen hatte, aber keinen Gedanken daran verschwendet, was geschehen würde, wenn Bianca sie ablehnen und Pio Navale sie als lästig befinden würde.
    »Er wusste nicht einmal, dass du mich kennst.«
    »Und warum sollte er es wissen?«, fragte Aurel verwirrt.
    »Warum hast du mich von Emy weggelockt, wenn ich dir nichts bedeute?«, gab sie zurück.
    Erst als sie es ausgesprochen hatte, fühlte sie, dass es an ihr nagte – das schlechte Gewissen, einfach gegangen zu sein, und noch mehr die eigene Unfähigkeit zu benennen, wer er für sie war und was sie ihm bedeutete.
    »Wovon redest du?«, fragte er.
    »Sag, ist dir entgangen, dass ich hier bin, dein Bruder aber nicht? Ich … ich habe Emy einfach zurückgelassen. Ohne Erklärung. Ohne Abschied. Und unsere Tochter … unsere gemeinsame Tochter … auch sie habe ich im Stich gelassen. Ich tat es doch … deinetwegen.«
    Sie stammelte, senkte den Blick – und dachte plötzlich an Simeons Worte, wonach die Menschen mit ihren Worten lügten, mit ihrer Miene und ihren Gesten aber nie.
    »Meinetwegen? Ich will die Insel hinter dem Horizont sehen. Und ich dachte, du wolltest das auch.«
    Wieder stieg Groll in ihr hoch, nicht über ihn,

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