Die Gefährtin des Medicus
sondern über sich, weil ihre Worte klangen, als haderte sie mit ihrer Entscheidung. »Seit wann schert dich, was ich wollen könnte? Bislang war es dir doch auch immer gleich!«, stieß sie aus.
»Was soll die Aufregung? Möchtest du wieder heimkehren?«
»Nein! Natürlich nicht!«
»Und warum beklagst du dich dann?«
Sie zuckte die Schultern, denn sie wusste es nicht. Schweigend standen sie beisammen, indessen der Wind kühler wurde, das Meer schwärzer und das rote Abendlicht blasser.
»Die Insel«, sagte er, und der harte Zug um seinen Mund wurde weicher. »Diese Insel liegt außerhalb der christlichen Welt. Dort ist alles erlaubt, verstehst du?«
Sie schüttelte den Kopf, verstand mitnichten.
»Es hat mit Papst Benedikt zu tun. Einst hat er verboten, was insbesondere während der Kreuzzüge üblich gewesen war: Viele der Ritter hielten in ihren Testamenten fest, dass, wenn schon nicht ihre Leichen, so doch ihre Herzen in der Heimat bestattet und dort betrauert werden sollten. So wurde es Brauch, ihre Brust nach dem Tod zu öffnen, das Herz einzubalsamieren und zu verwahren. Papst Benedikt verbot dies, meinte er doch, es würde die Auferstehung des Fleisches am Ende der Zeiten erschweren. Da fragte man ihn, ob jenes Verbot auch noch gelte, wenn Christen auf heidnischem Gebiet stürben – fernab jeglicher Kirche und fernab des geweihten Bodens. Und denke dir: Hier gab er nach. In Gebieten jenseits der christlichen Welt, so verkündete er, gelte diese Bestimmung nicht.«
Ein Bild stieg vor ihr auf, nicht von toten Leibern, in denen Aurel wühlte, sondern von der grünen Küste, die Pio Navale heraufbeschworen hatte, vom Paradies mit wilden Pflanzen und Vögeln, wohin seit Ewigkeiten kein Mensch mehr gelangt war, wo alles frisch war, auch das eigene Leben. Sie wollte etwas sagen, den Eifer teilen. Doch dann störte sie Stimmengewirr. Es kam näher, stammte von einigen Matrosen. Sie riefen Aureis Namen, und als sie ihn erreicht hatten, berichteten sie von einem Gefährten, der eben vom Mastbaum gefallen war. Er könne nicht mehr aufstehen, sein Knie sei irgendwie verrenkt.
»Na endlich«, knurrte er, und das Bild von der Grünen Insel verlosch vor ihren Augen.
Nach einigen Tagen verflog der Reiz des Neuen und Fremden. Am Morgen stand nicht länger die Frage, welche neuen Eindrücke sie aufsaugen würde, sondern ob ein guter oder schlechter Tag bevorstünde. Ein guter war, wenn die See glatt und tiefblau war und dennoch der Wind reichte, das Segel zu blähen und das Schiff anzutreiben. Ein schlechter, wenn ein trüber Himmel unruhige Wellen spiegelte und heftiges Schaukeln Schwindel und Kopfschmerz bereiteten. Alaïs litt nicht so heftig daran wie Bianca, die sich an manchen Tagen öfter übergab, als dass sie zwischendurch wieder ihren Magen füllen konnte. Aber auch sie lag in solchen Stunden am liebsten im schmalen Bett, schloss die Augen und suchte den wankenden, knirschenden Boden unter sich zu vergessen.
Und dann gab es Tage, da schlichtweg nichts geschah. Der Himmel hielt den Atem an, kein Lüftchen regte sich, und das Schiff schien sich am gleichen Platze zu drehen, anstatt Wegesstrecke zurückzulegen.
Gleichwohl das Ziel so fern und unbegreiflich war, stimmten solche Tage Alaïs ungeduldig. Eigenhändig rudern hätte sie wollen, um den Stillstand zu überwinden. Auf der Suche nach Ablenkung lauschte sie gar dem Sprachunterricht, den Simeon Pio Navale erteilte.
Die Laute, die aus seiner Kehle drangen, deuchten sie fremd und nicht menschlich. Sie klangen kehliger als der Singsang der Heimat. Mochte der provençalische Dialekt auch härter sein als die französische Hochsprache, mochte das Okzitanische abgehackter klingen als die Melodie der Neapolitaner und Sizilianer, die König Robert einst nach Avignon begleitet hatten – sie hatte nie Mühe gehabt, zumindest ansatzweise zu begreifen, was gesagt wurde.
Aus Simeons Mund freilich verstand sie dann keine Silbe.
»Und das ist Hebräisch, die Sprache des Herrn?«, fragte sie überrascht.
»Nein«, erklärte Navale grinsend. »So sprechen die Heiden im Osten. Es ist Arabisch.«
Alaïs schüttelte unverständig den Kopf. Hatte Simeon mit den Heiden verkehrt, die die Heilige Stadt Jerusalem besetzt hielten? Und warum – dies war die noch drängendere Frage – sollte ein Christenmensch, war es auch einer, der die ganze Welt erforschen wollte und nicht nur die bekehrte, diese Sprache lernen wollen?
Obwohl sie es nicht laut sagte, schien
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