Die Gefährtin des Medicus
alte Ursanne, meine Schwiegermutter, leidet schon seit Monaten an einem Geschwür«, sagte eine Stimme. »Kannst du es dir vielleicht anschauen?«
Und prompt sagte eine andere: »Mein kleiner Siffren hat häufig Fieberschübe. Weißt du, was man dagegen machen kann?«
Alaïs nickte in die eine oder andere Richtung. »Morgen«, versprach sie, »morgen schaue ich es mir an.«
Wo sie hintrat, wichen die Menschen zurück. Immer noch spürte sie ihre Füße kaum. Ihre Hände kribbelten, als wäre sämtliches Blut daraus gewichen, obwohl sie über und über damit beklebt waren.
Davor hatte sie sich immer geekelt, ungeachtet der Willenskraft, mit der sie sich überwunden hatte, Aurel zu helfen und sich ihm als kundige Gefährtin zu erweisen. Jetzt spürte sie den Ekel nicht. Sie zitterte auch nicht wie damals, als sie Aurel das Bein abgeschnitten hatte. Eine tiefe Ruhe senkte sich über sie, so, als könnte sie nie wieder eine schnelle Bewegung machen, nie wieder ein lautes Geräusch vernehmen, nie wieder tanzen und juchzen und sich nach Freiheit sehnen.
Plötzlich wusste sie: Sie würde Kranke heilen, obwohl sie Kranke immer gehasst hatte, und sie würde in Saint – Marthe bleiben, obwohl sie das Dorf immer als zu klein befunden hatte. Sie würde gut sein in ihrer Tätigkeit, und vielleicht würde sie darin auch ein wenig Frieden finden. Ob das alles auch Glück verhieß, das wusste sie freilich nicht, auch nicht, ob es für das Verlangen, frei zu sein, reichte, zumindest anders zu sein als der Rest. Sie begriff lediglich, dass sich eine Bestimmung nicht finden lässt, indem man tut, was man will, sondern schlichtweg, indem man tut, was man kann.
Erst jetzt bemerkte sie, dass Emy nicht mehr an ihrer Seite weilte. Sie drehte sich nach ihm um, doch er musste Dulcetas Haus schon lange vor ihr verlassen haben.
Er hat mir geholfen, dachte sie, und die Hoffnung, die darob aufloderte, war das einzige hitzige Gefühl, das in ihr aufstieg. Er hat mir geholfen … so wie er einst Aurel geholfen hat.
Sie beschleunigte ihre Schritte, um rasch zu ihm nach Hause zu kommen, und langsam fühlte sie ihre Beine wieder.
Alaïs blickte sich in der Stube um, doch diese war leer. Erschöpft lehnte sie sich an die Tür und verharrte eine Weile mit geschlossenen Augen. Dann hörte sie Schritte von oben, viel zu leise und zu zaghaft, um von Emy zu künden.
Raymonda tapste nach unten. Hoffnungsvoll war ihr Blick zunächst gewesen, doch als sie Alaïs dort stehen sah, verschloss sich ihre Miene und sie wich zurück. So tief senkte sie ihr Kinn, dass das dunkle, dichte Haar über ihr Gesichtchen rutschte und man nichts mehr davon sehen konnte als die Nasenspitze.
Alaïs musterte das Kind eingehender. War es verschüchtert, hatte es Angst vor ihr? Oder verhieß dieses Schweigen eine ähnliche Zähigkeit und Ausdauer wie bei Emy?
Jetzt erst dachte sie darüber nach, dass er sich stets als nicht minder willensstark und entschlossen erwiesen hatte als sein Bruder. Aurel mochte lautere Pläne gehegt haben, aber Emy hatte – still und umsichtig – dafür gesorgt, dass er sie leben konnte.
Alaïs blickte sich in der einfachen Stube um. Der Herd war ebenso sauber gehalten wie sämtliches Geschirr, das darüber hing. Keinerlei Rußschicht bedeckte das helle Holz der Möbel. Auf den Bänken lagen kleine Kissen. Dulcetas Worte fielen ihr ein, wonach Emy der beste Mann von allen sei und für die Tochter gesorgt hatte wie eine Mutter. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel. Und sie wusste auch, dass er in gleicher Weise für Aurélie gesorgt hätte, hätte sie die ersten Tage überlebt. Aurélie, die ihre Milch nicht genommen hatte. Raymonda hingegen hatte an ihren Brüsten getrunken, gierig und fordernd. Wie viel stecktevon dem einstmals lauten, ungeduldigen Schreien und dem hungrigen Schmatzen noch in diesem stillen Kind?
Alaïs kniete sich hin, sodass sie sich auf Augenhöhe mit der Kleinen befand. Die freilich blieb hinter ihren Haaren versteckt.
»Hast du Angst …«, versuchte es Alaïs, »hast du Angst, weil meine Hände blutig sind?«
Das Blut, das bis zu den Ellbogen reichte, war verkrustet. »Es ist nicht schlimm, ich habe nur …«
Sie brach ab. Es war ihr, als hätte sie ein Flüstern vernommen, zu undeutlich, um es zu verstehen. Doch als sie schon dachte, sie hätte sich geirrt, ertönte es zum zweiten Mal. Es kam aus Raymondas Mund und war gedämpft von ihrem dichten Haar.
»Geh weg!«, sagte sie. »Geh weg!«
Alaïs
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