Die Gefährtin des Medicus
aufrichtig zugetan war. Und doch hielt ihr die Tochter gern vor die Nase, dass sie ihren Mann ohne jeglichen Vorbehalt annahm und niemals ein anderes Leben gesucht und gewollt hatte als dieses.Sie, die sich ihr gegenüber stets so wortkarg gegeben hatte, prahlte nun gern mit ihrem vermeintlichen Glück.
Sonderlich tief konnte dieses Glück nicht gehen, dachte Alaïs manchmal. Andriu redete nicht nur so gerne wie seine Mutter, sondern hatte von ihr auch die Lust am Essen geerbt, was wiederum hieß, dass jene Sehnsüchte, die bei anderen Menschen im Herzen pochten, bei ihm im Magen saßen und sich nur allzu leicht mit seinem Leibgericht
Carbonada
erfüllen ließen – Ziegenfleisch, das im eigenen Sud auf kleiner Flamme über Stunden geköchelt wurde. Immerhin war er so nett, auch an die Mägen der anderen zu denken. Stets war er bereit, seine Mahlzeiten zu teilen, auch in den schweren Zeiten. Und stets fragte er mit begeistertem Lächeln: »Schmeckt es?«
»Dulceta …«, unterbrach Alaïs eben den Redefluss der anderen. »Dulceta, ich muss nun gehen.«
»Aber das Brot!«, rief diese, sichtlich ungläubig, dass die andere nicht bereit schien, den unausgesprochenen Preis dafür zu zahlen – nämlich ihr ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.
Alaïs trat von einem Fuß auf den anderen, suchte nach einer Möglichkeit, den Handel abzukürzen.
Eine Stimme kam ihr zu Hilfe, die von draußen hereintönte.
»Großmutter!«, rief ein Kind nach ihr. »Großmutter! Komm schnell!«
Die Sonne blendete Alaïs, als sie ins Freie trat. Sie schirmte ihre Augen ab, um die beiden Kinder zu betrachten, die ihr aufgeregt entgegenstürmten.
»Großmutter!«, rief das Mädchen, wie immer forscher und tatkräftiger als ihr schüchterner Zwillingsbruder. »Komm mit … wir müssen dir unbedingt etwas zeigen!«
Ungeduldig zerrte sie an Alaïs' Arm und wollte sie mit sich reißen.
»Gemach, gemach!« Obwohl Alaïs dankbar war, der geschwätzigen Dulceta zu entkommen, wollte sie sich nun nicht drängen lassen. Wenn es nach ihrer Enkeltochter gegangen wäre, somusste alles immer schnell und sofort passieren. Und obwohl sie mit den Kleinen einen viel ungezwungeneren, herzlicheren Umgang gefunden hatte als seinerzeit mit der eigenen Tochter, sah sich Alais nicht als Erfüllungsgehilfin kindlichen Trachtens. Sie verbrachte gerne Zeit mit den Enkeln – so diese Zeit denn genau begrenzt war und es zwischendurch genügend Pausen gab, in denen sie für sich alleine war.
»Großmutter, du kannst dir nicht vorstellen, was wir eben entdeckt haben!«
Obwohl Alais dem Kind die Hand entzogen hatte, ließ der aufgeregte Tonfall sie nicht kalt. Sie hörte einen ängstlichen Unterton heraus. Was immer die Kinder gesehen hatten, schien nicht nur aufregend, sondern auch erschreckend zu sein. Das wurde umso deutlicher, als sie sich nun dem Knaben zuwandte. Anders als seine Schwester war er im ausreichenden Abstand zu seiner Großmutter stehen geblieben und schien in sich gekehrt, als müsste er sich von dem eben Erlebten erst wieder erholen, ehe er den Blick heben konnte. Das eine Bein war um das andere geschlungen, als wollte er sich möglichst klein machen.
»Komm bitte mit!«, rief das Mädchen wieder. »Du musst dir unbedingt anschauen, was wir gefunden haben!«
»Also gut«, ließ sich Alaïs schließlich erweichen.
Die Geburt der Zwillinge war der einzige Moment gewesen, der ihr Raymonda nahegebracht hatte – nicht sonderlich lange, jedoch für jene Stunden, da die Wehen die Tochter geplagt hatten und die Weiber, die sie sonst um sich scharte, um sich die Mutter fernzuhalten, ihr nicht hatten helfen können.
Es war nicht Raymondas erste Geburt, doch die Kinder, die sie bislang geboren hatte, waren entweder viel zu früh auf die Welt gekommen und darum nicht lebenstauglich oder in ihrem ersten Jahr gestorben – wie viele Kleinkinder aus Saint – Marthe, denen Kälte und Hunger mehr zusetzten als den Größeren.
Raymondas Verzweiflung, dass sie erneut kein lebenstüchtiges Kind gebären konnte, war nackt und unverstellt. Alais hörte sieschreien, so trotzig und ärgerlich und irgendwie hoffnungslos wie seinerzeit, da sie ein kleines Kind gewesen war. Damals hatten entweder ihr Vater oder Emy alles getan, um sie zu beschwichtigen – nun war sie es, die zu ihr trat und bekannte: »Ich bin hier.«
Und dieses eine Mal schickte Raymonda sie nicht fort, sondern erlaubte ihren kundigen Händen, zuerst das eine Kind auf die Welt zu holen
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