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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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konnte Alaïs nicht länger ruhig stehen bleiben.
    »Bist du verrückt geworden?«, schrie sie ihn an.
    Der Knabe, der sich verzweifelt wand, hielt ob des unerwarteten Tons inne. Auch Aurel blickte überrascht hoch.
    »Ich muss den Blasenstein entfernen! Er stirbt womöglich, wenn ich’s nicht tue!«
    Alaïs stampfte auf den lehmigen Boden. »Ja, hörst du denn nicht, dass er vor Angst brüllt?«
    Aurel blickte noch erstaunter und legte dann den Kopf schief, als müsste er aufmerksam darauf lauschen, was ihm bis jetzt entgangen war.
    Alaïs ballte ihre Hände zu Fäusten. »Du hast kein Herz, Aurel!«, zischte sie.
    Er zuckte hilflos die Schultern. »Das Herz ist das wichtigste Organ im Körper des Menschen. Es sorgt dafür, dass arterielles und venöses Blut durch den Körper fließt. Ersteres bringt Lebenskraft. Letzteres ernährt den Körper.«
    Alaïs verdrehte nur die Augen, dann wandte sie sich an den Jungen. »Schsch«, machte sie, indes sie ihm beruhigend über den Kopf strich. »Hab keine Angst, du musst nicht weinen.«
    Sie lockerte die Knoten der Fesseln und befreite ihn daraus. Gleichwohl sie ihn von dem Zustand erlöst hatte, traf doch der erste Faustschlag sie. Obwohl der Schlag nicht fest war und sie den Kranken gleich zu bändigen versuchte, teilte der Knabe mehrere Tritte und Schläge aus. Wieder schrie er, die Augen zu Schlitzen zusammengepresst.
    »Schsch«, machte Alaïs wieder.
    »Wenn ich ihn nicht operieren kann, wird er vielleicht sterben, willst du das?«, schaltete sich Aurel wieder ein, der sie kopfschüttelnd beobachtet hatte.
    Alaïs barg das verheulte Gesicht des Knaben an ihrer Brust. Langsam fielen seine Stöße gemäßigter aus, sein Geschrei verstummte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass es ihr jemals nicht widerwärtig gewesen war, ein Kind zu halten. In ganz Saint – Marthe kannte sie keines, das nicht nach Milch und nach Urin roch, entweder noch unsicher durch die Welt tapste oder abenteuerlustig auf Streiche aus war – und den Erwachsenen sowohl in dem einen wie dem anderen Zustand eine Qual war. Sie hatte immer vollstes Verständnis für die Fischer, die zudroschen, wenn ihre Blagen ihnen lästig wurden – jedoch nie verstanden, welches Vergnügen ihr Vater, der als Einziger eine Ausnahme bildete, daran fand, mit den Kleinen zu spielen. Eines dieser Spiele, das ihr jetzt wieder einfiel, sah vor, dass er einen Medicus nachmachte, während die Kinder vermeintliche Krankheiten vortäuschten.
    Doch in diesem Augenblick bedurfte es keinerlei überwindung, den Knaben zu trösten. Als er sich endlich nicht mehr gegen ihren Griff wehrte, blickte sie Aurel herausfordernd an.
    »Natürlich soll er nicht sterben«, erklärte sie, »natürlich sollst du ihn behandeln! Aber denkst du nicht, seine Schmerzen würden geringer ausfallen, wenn er nicht derart panisch gestimmt ist? Wenn er weiß, wer du bist und dass du ihm nichts Böses willst, wenn du ruhig erklärst, was du vorhast – dann wird es ihm doch leichter fallen, die Schmerzen zu ertragen! Er muss sich an dein Gesicht gewöhnen, deine Hände!«
    Mit trotzig gerecktem Kinn hielt sie seinem Blick stand. Doch sie irrte, als sie Widerspruch erwartete, ja, insgeheim erhoffte, auf dass sie den ärger, den sie nun schon seit Tagen wider ihn hegte, endlich ausspucken könnte.
    Stattdessen runzelte er nachdenklich die Stirn, stützte sein Kinn auf seine Hand und betrachtete den Jungen aufmerksam. Dessen Atem hatte sich mittlerweile fast gänzlich beruhigt. Er hatte auch die Augen wieder geöffnet und starrte Aurel nun furchtsam an.
    »Woher weißt du das?«, fragte er, an Alaïs gewandt. »Du kannst doch nicht lesen!«
    »Muss ich lesen können, um zu wissen, dass ein friedliches Kind besser zu behandeln ist als ein brüllendes, ängstliches?«
    Noch tiefer gruben sich die Falten auf seiner Stirn.
    »Ich habe nicht daran gedacht … doch Henri de Mondeville hat Ähnliches beschrieben: Kranke, die dem
Cyrurgicus
vertrauen, können besser geheilt werden. Und dieser solle alles dafür tun, keine Gefühle zu zeigen und den Patienten nicht zu beunruhigen. Wie konnte ich das nur vergessen?«
    Sie wusste nicht genau, ob seine Worte als Schelte für seine eigene Achtlosigkeit gemeint waren oder als Lob für sie. Doch in dem Augenblick erhob er sich schon, trat zu ihr und packte sie an den Schultern.
    »Ich weiß nicht warum«, rief er begeistert, »aber du hast es genau richtig gemacht. Man behandelt nicht den Menschen an sich, sondern

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