Die Gegenpäpstin
Bild des geopferten Mädchens
ging ihm nicht aus dem Kopf. Außerdem spürte er eine Ohnmacht wie niemals zuvor, nicht einmal, als man seinen Bruder ans Kreuz
geschlagen hatte. Warum nur hatte Gott ihn mit großer körperlicher Kraft, aber dem Herz eines Hasen ausgestattet?
Dann kam ihm Mirjam in den Sinn. Wenn er sie doch nur sehen oder hören könnte! Sie war eine starke Frau. Wie überhaupt Frauen
mehr Stärke an den Tag legten, wenn es darum ging, das Schicksal zu bewältigen. Frauen waren es auch gewesen, die Jeschua,
als er am Kreuz starb, zur Seite gestanden hatten. Sie hatten ihm im Angesicht seines unwürdigen Todes die Würde zurückgegeben.
Kein Laut der Klage war über ihre Lippen gekommen, während er voller Angst und Zweifel mit dem Tod rang.
Und die Männer? Sie hatte der Mut verlassen und die Angst vor dem eigenen Ende davongetrieben, so daß sie sich in Häusern
und Höhlen versteckten, anstatt bei Jeschua zu sein und ihm im wahrsten Sinne des Wortes die letzte Ehre zu erweisen.
Manchmal dachte Jaakov, es wäre besser gewesen, mit seinem Bruder zu sterben, anstatt sich ein Leben lang die Frage zu stellen,
ob er Jeschua von seinen Plänen hätte abhalten sollen.
Jetzt würde er, Jaakov, selbst sterben müssen, und seltsamerweise bereitete ihm dieser Gedanke weit weniger Angst als seine
Sorge um Mirjam. Wie konnte er sie warnen? In der Dunkelheit begann er zu beten.
Vater im Himmel, steh ihr bei. Jeschua, laß sie nicht sterben, schon gar nicht auf so grausame Weise!
|280| Er begann in der Finsternis zu schluchzen, wie ein verlassenes Kind, und dann, mit einem Mal, glaubte er ein Licht zu sehen,
das sich langsam auf ihn zu bewegte. Eine nie gekannte Wärme umfing ihn und ein Gefühl von Geborgenheit.
»Jeschua? Bist du es?« Seine Stimme war brüchig, und die Antwort hörte er in seinem Kopf, laut und deutlich und so sanft,
wie es nur seinem Bruder eigen war.
Fürchte dich nicht,
sagte die Stimme.
Wir werden bald vereint sein. Du und ich und sie, die uns beiden die Liebste ist. Eure Reise endet bald.
Jaakov seufzte leise, und sein Atem zitterte vor Erleichterung.
»Und was ist mit Hannas ben Hannas? Werden er und die Anhänger des Bösen siegen?«
Nein, Jaakov, sie werden nicht siegen. Das Böse existiert nur in den Köpfen der Menschen, ohne sie wäre es nicht lebensfähig.
Es wird ihnen den Tod bringen, und von diesem Augenblick an ist es wie Ungeziefer, das seinen Wirt verliert. Es wird neue
Opfer finden und versuchen, Macht und Habgier unter den Menschen zu säen. Jedoch, der Schatten wird durch das Licht besiegt,
und nicht umgekehrt. Sei also ohne Sorge.
Jaakov glaubte zu spüren, wie eine Hand sein Haar berührte, ihn streichelte, und mit einem Mal konnte er seinen Duft aufnehmen,
und er hatte ein Bild vor Augen, als sie noch Kinder waren und um das größte Stück Brot balgten und sich des Nachts, zusammengekauert
zu fünfen, in einem einzigen Bett magische Geschichten erzählten.
»Jeschua«, flüsterte er glücklich.
Ich bin bei dir.
Am Morgen erschien ein römischer Soldat und führte Jochannan in den Kerker hinein. Im ersten Moment wurde Jaakov von Panik
ergriffen, weil er befürchtete, daß sein jüngerer Mitbruder nun auch der Rache des Hohepriesters zum Opfer gefallen war. |281| Doch Jochannan blieb vor den eisernen Gittern stehen und übergab dem Wachhabenden eine goldene Münze.
Der Wächter biß mit seinen verfaulten Zähnen hinein und setzte dann eine zufriedene Miene auf. »Hast du noch mehr Münzen?«
»Nein«, log Jochannan, »Das ist alles, was ich besitze. Und nun laß uns allein, wie du es versprochen hast.«
Der Römer grinste zufrieden und zog sich zurück.
»Denkst du, das Geld des Paulus ist es wert, daß du dich in eine solche Gefahr begibst?« Jaakov sah den Jüngeren vorwurfsvoll
an.
»Das Geld nicht«, antwortete Jochannan lächelnd und legte seine Finger um die kalten Gitterstäbe. »Aber du bist es allemal.«
Er sah Jaakov eindringlich mit seinen schönen braunen Augen an, in deren Tiefe sich offenbar die Zukunft spiegelte, denn wie
sonst konnte es sein, daß der asketisch wirkende Bruder soviel mehr wußte als alle anderen Apostel. »Was ist geschehen?« fragte
er Jaakov leise. »Deine Augen verkünden mir das Grauen, und wenn ich sie näher betrachte, sehe ich, daß dieses Grauen nicht
an dir selbst verübt wurde.«
»Ja«, erwiderte Jaakov mit belegter Stimme. Flüsternd berichtete er Jochannan von
Weitere Kostenlose Bücher