Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
»Yeah«, sagte ich. »Ich muß jetzt gehen.«
Sein hämischer Gesichtsausdruck verflog. »Du bist sauer, was?« sagte er besorgt.
»Nein.«
»Doch, bist du.«
»Nein, bin ich nicht.« Seine plötzlichen panischen Versöhnungsversuche ärgerten mich mehr als seine Beleidigungen.
»Es tut mir leid. Ich bin betrunken. Ich bin krank. Ich hab’s nicht so gemeint.«
Unversehens hatte ich eine Vision: Ich sah ihn zwanzig Jahre später, fünfzig Jahre später, im Rollstuhl. Und mich selbst, ebenfalls älter, wie ich mit ihm in irgendeinem verräucherten Zimmer herumsaß und wir diese Auseinandersetzung zum eintausendsten Mal wiederholten. Früher einmal hatte mir der Gedanke gefallen, daß die Tat uns zumindest miteinander verband; wir waren keine gewöhnlichen Freunde, sondern Freunde, bis daß der Tod uns scheiden würde. Dieser Gedanke war in der Zeit nach Bunnys Tod mein einziger Trost gewesen. Jetzt widerte es mich an zu wissen, daß es keinen Ausweg gab. Ich war an sie gekettet, an sie alle, für immer.
Zwar war der Wirbel um Bunny größtenteils verweht, aber das College war doch noch nicht ganz zu seinem normalen Alltag zurückgekehrt – und überhaupt noch nicht, was den neuartigen »Rasterfahndungs«-Geist der Rauschgiftbekämpfung anging, der sich auf dem Campus ausgebreitet hatte. Vorüber waren die Abende, wo es vorkam, daß man auf dem Heimweg vom »Rathskeller« dann und wann einen Lehrer unter der blanken Glühbirne im Keller von Durbinstall hantieren sah – Arnie Weinstein zum Beispiel, den marxistischen Wirtschaftswissenschaftler (Berkeley ’69), oder den dürren, zottelhaarigen Engländer, der Literaturseminare über Sterne und Defoe veranstaltete.
Lange vorüber. Ich hatte gesehen, wie grimmige Sicherheitsleute das unterirdische Labor demontierten und kartonweise Reagenzgläser und Kupferröhrchen herausschleppten, während der Oberchemiker vom Durbinstall, ein kleiner pickelgesichtiger Junge aus
Akron namens Cal Clarken, weinend daneben stand, noch in seinem Laborkittel mit der Markennamensaufschrift und den hohen Turnschuhen. Der Anthropologie-Dozent, der seit zwanzig Jahren ein Seminar mit dem Titel »Stimmen und Visionen: Carlos Castaneda und sein Denken« veranstaltete (einen Kurs, an dessen Ende ein obligatorisches Lagerfeuerritual stand, bei dem Pot geraucht wurde), gab ganz plötzlich bekannt, daß er ein Sabbatjahr einlegen und nach Mexiko reisen wolle. Arnie Weinstein verlegte sich auf die Kneipen in der Stadt, wo er versuchte, mit feindseligen Wirten marxistische Theorie zu diskutieren. Der zottelhaarige Engländer hatte sich seinem Hauptinteresse zugewandt und stellte wieder Mädchen nach, die zwanzig Jahre jünger waren als er selbst.
Aber obgleich das Geschäft dramatisch zurückgegangen war, stellte ich, ohne überrascht zu sein, fest, daß Cloke seinen Handel noch immer betrieb, wenn auch um einiges diskreter als in den alten Zeiten. An einem Donnerstag abend ging ich zu Judys Zimmer, weil ich sie um ein Aspirin bitten wollte; nachdem man mir durch die verschlossene Tür ein paar kurze, aber mysteriöse Fragen gestellt hatte, traf ich Cloke drinnen, der bei zugezogenen Vorhängen mit ihrem Spiegel und ihrer Apothekerwaage hantierte.
»Hallo«, sagte er, zog mich hastig hinein und schloß die Tür wieder ab. »Was kann ich heute abend für dich tun?«
»Äh, nichts, danke«, sagte ich. »Ich wollte zu Judy. Wo ist sie?«
»Oh«, sagte er und ging wieder an seine Arbeit, »die ist in der Kostümwerkstatt; ich dachte, sie hätte dich hergeschickt. Ich hab’ Judy gern, aber sie muß aus allem immer einen Riesenzirkus machen, und das finde ich entschieden nicht cool. Über-hauptnicht ...« , sorgfältig bemaß er ein Quantum Pulver mit tappendem Finger in ein Stück gefaltetes Papier, »cool.« Seine Hände zitterten; es war offenkundig, daß er ziemlich großzügig an seiner eigenen Ware genascht hatte. »Aber ich mußte meine eigene Waage wegschmeißen, weißt du, nachdem diese ganze Scheiße passiert war, und was soll ich denn machen, verdammt? Zur Krankenstation gehen? Und sie rennt den ganzen Tag rum, mittags in der Mensa und sonstwo, und reibt sich die Nase und sagt: › Gramma ist da, Gramma ist da‹ – ein Glück bloß, daß keiner wußte, wovon sie redet, verdammt. Aber trotzdem ...« Er deutete mit dem Kopf auf das aufgeschlagene Kunstgeschichtebuch, das neben ihm lag – Jansons History of Art – und das praktisch in Fetzen geschnipselt war. »Und
Weitere Kostenlose Bücher