Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
okay. Danke, Henry.«
»Dann gute Nacht.«
Ich blieb unter der Verandalampe stehen und sah ihm nach, als er wegfuhr. Dann ging ich auf mein Zimmer, wo ich in dumpfer Betrunkenheit auf mein Bett fiel.
»Wir haben alles über deinen Lunch mit Bunny gehört«, sagte Charles.
Ich lachte. Es war am Spätnachmittag des folgenden Tages, und ich hatte fast den ganzen Tag an meinem Schreibtisch gesessen und im Parmenides gelesen. Es war schwieriges Griechisch, aber ich hatte auch einen Kater und mich so lange damit befaßt, daß die Buchstaben gar nicht mehr wie Buchstaben aussahen, sondern wie etwas anderes, Unentzifferbares, Vogelspuren im Sand. Ich starrte wie in Trance aus dem Fenster auf die Wiese, die kurzgemäht war wie kräftig grüner Samt und sich am Horizont zu Teppichhügeln aufwölbte, als ich weit unten die Zwillinge wie zwei Geister über den Rasen schweben sah.
Ich lehnte mich aus dem Fenster und rief zu ihnen hinunter. Sie blieben stehen und drehten sich um, die Hände schattenspendend über die Stirn gelegt, die Augen im abendlich grellen Sonnenlicht zu Schlitzen verengt. »Hallo«, riefen sie wie aus einem Munde. »Komm herunter.«
Und so spazierten wir jetzt zwischen den Bäumen hinter dem College daher, am Rande des struppigen kleinen Fichtenwäldchens am Fuße der Berge, und die beiden hatten mich in die Mitte genommen.
Sie sahen heute besonders engelhaft aus; ihr blondes Haar war vom Wind zerzaust, und beide trugen weiße Tennispullover und Tennisschuhe. Ich wußte nicht genau, warum sie mich heruntergerufen hatten. Sie waren zwar durchaus höflich, aber sie wirkten wachsam und ein wenig verwirrt, als käme ich aus irgendeinem Land mit ungewohnten und exzentrischen Sitten, so daß sie große Vorsicht walten lassen mußten, um mich nicht zu erschrecken oder zu beleidigen.
»Wie habt ihr davon gehört?« fragte ich. »Von dem Lunch?«
»Bun hat heute morgen angerufen. Und Henry hat es uns gestern abend erzählt.«
»Ich glaube, er war ziemlich wütend.«
Charles zuckte die Achseln. »Auf Bunny vielleicht. Nicht auf dich.«
»Die beiden haben nicht viel übrig füreinander, was?«
Sie schienen erstaunt, das zu hören.
»Sie sind alte Freunde«, sagte Camilla.
»Die besten Freunde, würde ich sagen«, meinte Charles. »Es gab eine Zeit, da sah man sie nur zusammen.«
»Aber sie scheinen sich ziemlich viel zu streiten.«
»Ja, natürlich«, sagte Camilla, »aber das bedeutet nicht, daß sie einander nicht trotzdem gern haben. Henry ist so ernst, und Bun ist so – na, eben nicht ernst –, daß sie sich eigentlich ganz gut verstehen.«
»Ja«, sagte Charles. »L’Allegro und Il Pensieroso . Ein Paar, das gut zusammenpaßt. Ich denke, Bunny ist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der Henry zum Lachen bringt.« Er blieb plötzlich stehen und deutete in die Ferne. »Bist du schon mal da drüben gewesen?« sagte er. »Da ist ein Friedhof auf dem Hügel.«
Ich konnte ihn mit Mühe zwischen den Fichten erkennen – eine flache, unebene Reihe von Grabsteinen, rachitisch und kariös, in einer so verwinkelten Weise schief, daß der gespenstische Effekt von Bewegung entstand, als habe eine ungestüme Kraft, ein Poltergeist vielleicht, sie erst vor wenigen Augenblicken dort verstreut.
»Der ist alt«, sagte Camilla. »Aus dem achtzehnten Jahrhundert. Es gab auch eine Stadt dort, mit einer Kirche und einer Mühle. Außer den Fundamenten ist nichts mehr da, aber man kann die Gärten noch sehen, die sie angelegt haben. Pippinäpfel und Ehrenpreis und Moosrosen wachsen da, wo die Häuser standen. Gott weiß, was da oben passiert ist. Eine Epidemie vielleicht, oder ein Feuer.«
»Oder die Mohawks«, meinte Charles. »Du mußt es dir irgendwann mal ansehen. Vor allem den Friedhof.«
»Es ist hübsch da. Besonders, wenn es schneit.«
Die Sonne stand schon tief; golden brannte sie durch die Bäume und warf unsere Schatten vor uns über den Boden, lang und verzerrt. Geraume Zeit gingen wir so, ohne etwas zu sagen. Die Luft roch modrig nach dem Rauch ferner Laubfeuer, und die Kühle der Dämmerung gab ihr leichte Schärfe. Man hörte kein Geräusch außer dem Knirschen unserer Schritte auf dem Kiesweg und dem Pfeifen des Windes in den Fichten. Ich war schläfrig und hatte Kopfschmerzen, und alles kam mir ein bißchen unwirklich vor, fast wie in einem Traum. Mir war, als könnte ich jeden Augenblick von einem Stoß Bücher hochschrecken und mich allein am Schreibtisch in meinem dunklen
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