Die geheime Mission des Nostradamus
Die Gesetze der Gastfreundschaft bestehen noch, und ich bin seine Schwester. Er wird unentwegt an mein Geld denken. Außerdem bringen wir vornehme Gäste mit. Glaub mir, er wird sich von seiner besten Seite zeigen.«
Heimat. Kann man dorthin zurückkehren, wenn sie zerstört ist? Gewiß, gewiß, redete ich mir gut zu. Es wird nett werden. Wir werden uns unterhalten, meine Schwestern und ich, wir werden Karten legen wie in alten Zeiten. Endlich kann ich Mutter erzählen, was ich ihr in Briefen nicht schreiben konnte. Es wird alles gut. Es muß gut werden. So gingen meine Gedanken im Rhythmus des Pferdegetrappels, während die Landschaft immer vertrauter wurde.
Zwei Tage später tauchte eine hochgewachsene, schwere Gestalt in grauem Umhang im Laden des eleganten Handschuhmachers auf, der in der Rue de la Cerisaie gegenüber von Tante Paulines Haus lag. Er hatte einen grauen Bart und schulterlanges, fettiges graues Haar. Ein Auge war von einer Augenklappe aus schwarzem Samt verdeckt.
»Irgendwelche Neuigkeiten für mich? Haben sie schon den Doktor gerufen?«
»Keine Neuigkeit, und dabei habe ich seit Eurem Besuch meinen Jungen jeden Tag Ausschau halten lassen.«
»Seid Ihr sicher?« sagte Thibauld Villasse und ließ ein paar Münzen in die ausgestreckte Hand der Frau gleiten.
»Völlig sicher. Ich bin eine ehrliche Person. Aber Ihr braucht nicht mehr zu kommen, die ganze Familie ist vor zwei Tagen abgereist, und bei diesem schrecklichen Krieg weiß ich nicht, wann sie zurückkommen.«
»Ein Jammer, ein Jammer – aber habt Ihr keinerlei Anzeichen mangelnder Gesundheit gesehen?«
»Nichts. Sie ritt einen großen Braunen, die Zofe hinter sich, und zog so fröhlich los, als ginge es zum Ball.«
»Verflucht! Vielleicht hat der Kurier es nicht abgeliefert.«
Thibauld Villasse ging zu dem Haus gegenüber und untersuchte dann die verschlossenen Tore.
Dort hatte sich bereits ein Besucher, ein staubiger Geselle in schäbigem Selbstgesponnenem, eingefunden, ein gewöhnlicher Kurier, der auf die Tür einhämmerte und keine Antwort erhielt.
»Kein Glück, Bursche?« fragte Villasse. Der Kurier wandte sich mit einiger Erleichterung zu ihm um, denn Villasse war offenkundig ein Edelmann.
»Seit zwei Tagen versuche ich, das hier bei Madame Tournet abzuliefern, aber es ist nie jemand zu Hause.«
»Ich bin ein Freund der Familie«, sagte Villasse honigsüß. »Leider sind alle geflohen. Ich habe vor, mich in den nächsten Tagen zu ihnen zu gesellen. Würdet Ihr mir die Briefe anvertrauen, damit ich sie überbringe?«
»Es ist lediglich einer…«
»Es wäre nicht recht, wenn Ihr keinen Lohn bekommen würdet… Sagt dem, der ihn geschickt hat, Monsieur de la Tourette wird ihn in Madame Tournets Haus in Orléans abliefern«, und Villasse ließ eine kleine Börse vor den geblendeten Augen des Kuriers klimpern.
»Ei, vielen Dank, Monsieur de la Tourette, Ihr seid sehr großzügig«, stammelte der Kurier, während er Villasse' Silberlinge im Wams verstaute. Als er ging, schob Villasse einen Daumen unter das Siegel, das er nicht kannte, und als er das erste Blatt las, verzog sich sein Gesicht zu einem schauerlichen Lächeln.
»Potzblitz, sie hat am vierundzwanzigsten Dezember und ganz und gar nicht am elften Februar Geburtstag«, sagte er bei sich. Er rechnete die Monate an den Fingern zurück. »Das bedeutet – sie ist außerehelich gezeugt worden. Was für eine Überraschung! Daraus könnte ein geschickter Advokat gewiß einen Vorteil ziehen, der meine Sache befördert.« Doch als er weiterlas, blieb ihm der Mund offenstehen. »Zauberei? Der Herr aller Wünsche? Wer würde wohl den Kräften eines magischen, unsterblichen Kopfes Einhalt gebieten wollen? Glücklicherweise kennt sie den Schlüssel dazu nicht – den habe ich hier… Irgendwie muß ich das Ding in meinen Besitz bringen. Laß mich überlegen: Der Herr aller Wünsche gehört der Königin, das steht hier zwischen den Zeilen. Was aber, wenn ich ihn stehle? Ich werde mir wünschen, daß sie ihn nicht zurückbekommt. Weiber – sind so töricht, daß sie niemals zu Ende denken.
Doch angenommen, er fällt jemand anders in die Hände? Verflucht! Sie muß unterwegs in la Roque haltmachen! Hercule de la Roque, du Mistkerl, du sollst meinen Zauberkopf nicht in die Finger bekommen… Ich muß sie abfangen…« Villasse war so in die Planung seines ersten Wunsches vertieft, daß er sich nicht die Mühe machte, auch die zweite Seite zu lesen, auf der Sibilles Horoskop
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