Die geheime Mission des Nostradamus
getrieben worden war. Sie war alles, was er auf dieser Welt begehrte.
»… und übrigens, bei meiner Rückkehr erwarte ich, daß du die Zinsberechnung beherrschst.« Die Stimme seines Vaters wehte die Treppe hoch, während dieser in Richtung der Pferdeställe verschwand.
Gott hat mich nicht zum Buchhalter bestimmt, dachte Nicolas. Ich bin dazu auserkoren, die tragisch schöne Sibille vor den Intrigen eines finsteren und dekadenten Hofes zu erretten, wir sind dazu ausersehen, ein…
»Und auch kandierte Kirschen! So viele Süßigkeiten habe ich, glaube ich, mein Lebtag nicht gesehen!«
»Die hat der Abbé fast genauso gern wie das jeu de dames. Vergiß nicht, das Brett dort drüben auf dem Tischchen aufzubauen. Arnaud, ich höre bereits meinen Cousin kommen.
Führ ihn herein! Ich muß ihm unbedingt von meinem neuen Leiden berichten, hier dieses seltsame Ziehen oberhalb der Leber. Er soll mir sagen, welche Bäder am besten dafür sind.« Tante Pauline war ganz flattrig. Jeden Dienstagnachmittag, so regelmäßig wie ein Uhrwerk, stattete ihr ein Vetter zweiten Grades, der Abbé Dufour, einen Besuch ab, verschlang Süßigkeiten und sprach mit ihr über die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet der Wissenschaften und des Okkulten. Er war ein Mann von kleinem Wuchs und großer Weisheit.
Einmal im Jahr begleitete er Tante Pauline, zusammen mit einer anderen ältlichen, unverheirateten Base und seiner alten Mutter, ins Bad nach Plombières, nach Enghien-les-Bains, nach Evian oder an einen anderen Ort, wo Heilwässer die vielfältigsten Krankheiten zu heilen vermochten, angefangen bei Gliederreißen über Gicht, Kopfschmerzen, Blutarmut, Auszehrung, Schwindsucht, Herzklopfen, Wassersucht, Lähmungen, nervösen Anwandlungen, einem Übermaß an Säften bis hin zu tausend anderen Zipperlein, allesamt Leiden, die sie zu haben glaubten und von denen sie einige tatsächlich hatten. Andere Lieblingsthemen des Abbé waren die Symptome seltener und exotischer Krankheiten – vorzugsweise solcher, die zunächst harmlos wirkten, doch dann zu einem gräßlichen Tod führten, außerdem die Willkür des Schicksals, die Ziele Gottes und Wunderheilungen. An diesen Dienstagen lernte ich jede Menge, und da die Themen für mich allesamt neu waren und es nicht um Jagd ging, boten sie mir köstliche Unterhaltung.
Aber es war nicht der Abbé, der den Raum betrat. Ein Mann in der staubbedeckten Livree der Königin stand in der Tür und streckte Tantchen einen Brief entgegen.
»Lies ihn mir vor, ich bin ja so aufgeregt… Ach nein, gib ihn mir zurück! Schau einmal, wie wunderbar, was für eine Überraschung… Ja, da steht tatsächlich: ›… wird gebeten, vor der Königin zu erscheinen‹. Ja, schwarz auf weiß, so steht es da. Und du sollst eine Auswahl deiner Gedichte lesen. O mein Herz.« Tante Pauline setze sich und legte eine Hand auf die Brust. Mit der anderen hielt sie den Brief und fächelte sich Luft zu: »Ja, ja, sagt der Königin«, wandte sie sich an den auf eine Antwort wartenden Lakaien, »wir fühlten uns äußerst geehrt und nähmen die Einladung gerne an.«
»Die Königin hat mich beauftragt, Euch zu sagen, sie habe eine Sammlung seltener und antiker Behältnisse, und es sei ihr zu Ohren gekommen, daß Ihr im Besitz einer Schatulle seid, die zu ihren Stücken passen könnte. Wenn Ihr sie der Königin überlaßt, so würde sie es Euch gebührend zu danken wissen… Eine Position bei Hofe, möglicherweise – wenn Ihr versteht…«
»Eine Schatulle? Nichts lieber als das«, erwiderte Tantchen freudestrahlend.
»Aber, aber… meine Dichtkunst… Woher weiß die Königin…«, stammelte ich, als der Bote gegangen war.
»Woher weiß sie von der Schatulle? Königinnen haben so ihre eigenen Quellen… Wie entzückt wird der Abbé sein, wenn er hört, daß er uns an den Hof begleiten kann. Diese Ehre, diese Auszeichnung! Sibille, die elendige Mumie im Kasten hat dir Glück gebracht, ohne daß du auch nur einen einzigen Wunsch aussprechen mußtest. Was wieder einmal zeigt, daß Tugend am Ende doch obsiegt. Aber – Arnaud, schau, da ist wieder jemand an der Tür. Das wird er sein. Beeil dich, ich hab ja solche Neuigkeiten!«
Doch keiner von uns war auf die Besucherin gefaßt, die bei Arnauds Ankündigung »Madame Bonneuil« eintrat. Ein Blick auf die farbenprächtige Kleidung, das Rouge und den Reispuder, die rotbraunen Locken, die gewagt unter ihrem perlenverzierten Kopfputz hervorlugten, ihre blaßblauen Augen
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