Die geheime Mission des Nostradamus
studieren und nirgendwo ein Examen ablegen! Mein Gatte sagt, daß Nicolas Montvert der geborene Taugenichts ist. Und diese Geduld, die sein Vater mit ihm hat! Ein Heiliger, wahrhaftig ein Heiliger. Mein Gatte sagt, er würde einen Sohn, der so lebt, schnurstracks in die Bastille schicken. Du siehst also, Monsieur Montvert ist von Natur aus großzügig und nachsichtig. Und du mußt zugeben, daß er – nun ja, zwar ein wenig alt ist – aber weitaus vornehmer aussieht als Villasse, und bei Hofe, nun, da braucht eine Dame ihre kleinen Liebeleien, ich meine, vielleicht triffst du dort jemanden von höherem Rang, doch in der Zwischenzeit… er dürfte leicht loszuwerden sein, falls du dich verbessern…«
»Meine liebe Matheline«, sagte Tante Pauline mit honigsüßer Stimme, »bleibt doch bitte und lernt meinen Vetter kennen, den Abbé Dufour, der einen Vortrag für sein Leprosarium hält.«
»Sein… ahem… was?«
»Gewißlich habt Ihr schon davon gehört, von seinem kleinen Spital – Saint Lazare? Er ist ein ungemein heiliger Mann, ich bin überzeugt, Ihr werdet seine Unterhaltung recht erbaulich finden. Er wäscht den Leprakranken eigenhändig die Schwären.«
»Nein, wie wunderbar, wie wohltätig, wie edel. Hoffentlich treffe ich ihn ein anderes Mal an… es ist schon so lange her, daß ich mich mit einem wahrhaft heiligen Menschen unterhalten habe. Viele Menschen sind heute so seicht… oh, Sibille, komm in meine Arme, du hast mir ja so gefehlt.« Und Base Matheline, die sich gar nicht erst gesetzt hatte, drückte mich an ihren steif geschnürten, samten umhüllten Busen, wir gaben uns einen Kuß, und dann verabschiedete sie sich und ließ eine Wolke Fliederduft zurück.
»Sie hat alle Kirschen aufgegessen«, sagte Tante Pauline, die sich nicht von ihrem Platz am Tisch erhoben hatte.
»Ach, Tantchen, er ist gar nicht tot. Was soll ich nur tun? Als Mörderin war alles einfacher«, jammerte ich.
»Tun? Natürlich Dame spielen. Darin bist du besser als ich. Und ich spiele den Kibitz, was noch schöner ist, als selbst zu spielen, weil ich dann nicht verlieren kann. Ich höre, glaube ich, den Schritt des Abbé vor der Tür.«
Also, dieser Abbé Dufour wäre im Traum nicht auf die Idee gekommen, einen Leprakranken zu waschen, weil ihn das bei seinen Studien der Lebenszyklen seltener und merkwürdiger Pflanzen gestört hätte, ebenso bei seiner Suche nach dem verborgenen Willen Gottes, bei seiner Lektüre der Kirchenväter über das Wesen des Lebens nach dem Tode und insbesondere beim Verfassen seiner dickleibigen Monographie über das Leben der Schildkröte, die die Welt der wissenschaftlichen Philosophie in Erstaunen versetzen sollte. Und was die Lepra anging, so hätte für ihn nur die Theorie von der Lepra Bedeutung gehabt, die von der Krankheit Befallenen waren zu gewöhnlich für seine Überlegungen. Ein winziger Mann mit einem Buckel und blasser Gesichtsfarbe, war er ein Meister darin, die Damen mit seiner geistreichen Unterhaltung zu bezaubern und ihnen die praktischen Dinge voll und ganz zu überlassen. Nur was seine eigenen leiblichen Bequemlichkeiten betraf, da kannte er sich sehr genau aus. Dank dieser Gabe wählte er für uns – als wir endlich unsere schicksalhafte Reise antreten sollten – ein prächtig geeignetes Kloster zum Übernachten für unterwegs aus, wo der Koch sein persönlicher Freund war. Auch in Paris wußte er eine ausgezeichnete Unterkunft in einem Gasthof am linken Ufer der Seine in der Nähe seiner bevorzugten Buchläden.
Er war der vollendete Reisegefährte, denn ihm machte die Langsamkeit von Tante Paulines reichverzierter Sänfte nichts aus, die zwischen zwei großen grauen Pferden namens Flora und Capitaine baumelte. Ein ums andere Mal rief er ihr durch die geschlossenen Vorhänge zu, sie solle die Sonne Sonne sein lassen und sich diese oder jene interessante Sehenswürdigkeit in der Straße ansehen. Doch erst als die Strahlen der bösen Scheibe schräg fielen, zog Tantchen den Vorhang an der schattigen Seite auf, und alsdann ergötzte er uns mit vergnüglichen Geschichten über berühmte Räuber, die man auf ebendieser Anhöhe oder zwischen den Bäumen jenes fernen Gehölzes gefangengenommen hatte. Oder waren es behaarte Ungeheuer, die sich später als menschliche Wesen herausstellten, da drüben, jenseits der Häuschen, unweit des Hügels…
»Théophile, warum halten wir? Sind wir schon beim Gasthof?« Wir hatten die Sonne nur kurz in die Sänfte gelassen, als wir
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