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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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umfassende Wissen, das er brauchte, um seine Arbeit zu verrichten. Rechtsanwälte mussten in Psychologie, Biologie und Chemie bewandert sein, aber vor allem das Gesetz wie ihre Westentasche kennen: Beweismittel, Strafprozessordnung, Rechtszusammenhänge auf bundes- und einzelstaatlicher Ebene, Vertragsrecht, Kriminologie …
    Bislang hatte Teddy immer Jurist werden wollen, wie sein Vater und Großvater. Aber er hasste die Bemerkungen, die er von anderen Leuten zu hören bekam: dass Anwälte nur darauf aus waren, Geld zu verdienen, dass sein Vater mit der Verteidigung von Greg Merrill ein Vermögen scheffelte.
    Keine dieser Unterstellungen war neu für ihn. Teddy bekam sie schon seit langem immer wieder aufgetischt. Sein Vater hatte ihn stets gewarnt, dass Kriminalfälle wie dieser die Gemüter erhitzten und Teddy sich nicht mit Leuten einlassen solle, die ihm unter die Nase rieben, was sie davon hielten. Seine Familie war in dieser Beziehung abgehärtet, hatte schon einiges verkraften müssen: obszöne Anrufe, Briefe mit Hasstiraden und nun auch noch ein Backstein, mit dem die Fensterscheibe eingeworfen worden war.
    Silver Bay war eine Kleinstadt, wo jeder jeden kannte. Sie gehörte zu den idyllischen Fleckchen Erde in Neuengland, die den Sprung auf die Kalenderblätter fanden: Wiesen mit Goldrute, Bäume, deren Blattspitzen scharlachrotgefärbt waren, ein weißer Leuchtturm auf einer Landzunge. Teddys Vater und Großvater waren für viele der hiesigen Familien als Anwälte tätig gewesen, doch jetzt hatte Teddy den Eindruck, als hätten sich selbst Freunde in Feinde verwandelt.
    Es war schlimm genug, dass sie seinen Vater wegen seiner Arbeit angriffen. Noch schlimmer war freilich der Klatsch über die Ehe seiner Eltern. Er hatte gehört, wie Mrs. Carroll hinter vorgehaltener Hand mit ihrer Freundin tuschelte – dass seine Mutter eine Affäre gehabt hatte. Er wollte es nicht glauben, aber tief in seinem Innern wusste er, dass die Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Er erinnerte sich, dass seine Mutter kurz vor ihrem Tod mehrere Male erst mitten in der Nacht heimgekommen war; er hatte nicht schlafen können und darauf gewartet, ihren Schlüssel in der Haustür zu hören.
    Vielleicht war das der Grund, warum er jetzt ein so sonderbares Gefühl hatte: Warten machte ihn unruhig. Er dachte an die Nacht, als seine Mutter nicht nach Hause gekommen war.
    Das Leben erschien Teddy verwirrend. Es gab vieles, was ihn belastete: die Sorge um seine Schwester und die anderen Mädchen in der Stadt, das Bedürfnis, seine Eltern zu verteidigen. Gestern war etwas geschehen, was ihm nicht aus dem Kopf ging.
    Als Teddy von seinem Trainer nach Hause gebracht worden war, hatte er plötzlich Maggie am Straßenrand entlanggehen sehen.
    »Da ist ja meine Schwester!«, hatte er vom Rücksitz aus gerufen, und der Trainer hatte gehalten und gefragt, ob sie mitfahren wolle. Teddy würde niemals die Schrecksekunde vergessen – nicht länger als ein Wimpernschlag, bevor sie ihren Bruder entdeckt und Mr. Jenkins erkannt hatte. Maggie hatte offenbar gedacht, wenn auch nur für eine Sekunde, dass der Mörder es auf sie abgesehen hatte.
    Teddy konnte locker mit den dummen Bemerkungen in der Schule umgehen, selbst mit denen von Freunden wie Bert und Gris, wie zum Beispiel: »Sag mal – hat dein Vater Greg Merrill zu euch nach Hause eingeladen, zum Thanksgiving-Essen?«
    Was ihm gestern so schwer zugesetzt hatte, waren die Gedanken, die seine beiden Trainer zum Ausdruck gebracht hatten. Mr. Jenkins und Mr. Phelan waren nett. Keine geistigen Leuchten wie sein Dad, aber gewieft. Sie hatten beide einen College-Abschluss – Mr. Jenkins von der UC onn, Mr. Phelan von Notre Dame.
    Teddy spielte für sein Leben gerne Fußball, und sie halfen ihm, in diesem Sport Spitzenleistungen zu erreichen. Sie nahmen ihn beim Training hart ran, scheuchten ihn kreuz und quer über den Platz, zwangen ihn, »das Letzte aus sich rauszuholen und fünfzig Liegestütze zu machen«. Oder sechzig, oder hundert, wie heute. Während sein Vater in der Kanzlei zu tun hatte, arbeiteten seine Trainer mit ihm, lobten ihn, spornten ihn mit den Worten an, er habe das Zeug, in der Mannschaft von Yale-Harvard-Brown zu spielen, wo immer er wolle.
    Mr. Phelan hatte eine Sendung im Autoradio eingeschaltet, bei der die Zuhörer anrufen und ihre Meinung äußern konnten. Der Moderator hatte eine laute, sympathisch klingende Stimme und betete jedes Mal aufs Neue die Litanei herunter,

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