Die geheime Stunde
was in diesem Land alles nicht stimme. Mr. Phelan lauschte und gab seinen Senf dazu, wenn es um Themen wie Strafvollzugsanstalten ging, die seiner Ansicht nach einer Luxusherberge glichen, und Knastbrüder, die nach ihrer Entlassung wieder rückfällig wurden.
»Es liegt an unserem System«, hatte Mr. Phelan gestern gesagt, ohne Teddys Vater offen zu kritisieren. »Die Polizei macht sich nur noch Sorgen über die Rechte dieser Kriminellen, dabei fehlen ihr die Mittel und Möglichkeiten, sie zu fassen – oder dafür zu sorgen, dass sie ihre Strafe wirklich bis zum Schluss absitzen, oder den Urteilsspruch erhalten, den sie verdienen.«
»Und Gott stehe dir bei, wenn du einen Mörder in den Todestrakt bringst«, fügte Mr. Jenkins hinzu. »Einige Leute meinen offenbar, ein Mörder habe ein größeres Anrecht auf sein Leben als die Mädchen, die er umgebracht hat!«
Teddy war zusammengezuckt; die beiden Trainer waren zu höflich, um seinen Vater namentlich zu nennen, aber Teddy spürte, dass ihre Worte auf ihn gemünzt waren.
»Jetzt mach aber mal einen Punkt, Hunt!« Mr. Phelan hatte gelacht. »Merrill ist wirklich schwachsinnig. Er war so blöd, sich erwischen zu lassen, hat für die Polizei eine Spur gelegt, die direkt zu ihm führte – er braucht zweifellos jede Hilfe, die er bekommen kann.«
»Ja, der Kerl ist mit Sicherheit nicht ganz dicht. Geistesgestört, unzurechnungsfähig – was auch immer, es trifft alles zu.«
Teddy hasste es, wie die beiden Trainer über seinen Vater redeten – weil er wusste, worum es in Wirklichkeit ging. Es war bitter, in einer Kleinstadt zu leben und in der Kontroverse, die hier entbrannt war, zwischen zwei Stühle zu geraten.
Das Schlimmste war vielleicht – und es war schmerzlich genug, es einzugestehen, sogar sich selbst –, dass seine Wut beiden Elternteilen galt. Seiner Mutter wegen dem, was sie getan hatte, und seinem Vater, weil er ständig arbeitete. Ob gewollt oder nicht, sie hatten dafür gesorgt, dass Teddy und Maggie sich oftmals selbst überlassen blieben. Dabei hätten sie die Gesellschaft von Erwachsenen gebraucht, und die Einzigen, die Teddy finden konnte, redeten schlecht über seinen Vater.
Er wünschte sich, Kate wäre noch bei ihnen. Sie hatte sich nur ein einziges Spiel angeschaut, aber er hatte das Gefühl, es wäre nicht das letzte gewesen. Bei einem Blick zu den Seitenlinien hatte er gesehen, wie sie vor Aufregung auf und ab gesprungen war und in den Sprechchor eingefallen war, der seinen Namen rief. Bestimmt ahnte sie nichts davon, aber er hatte ihre Stimme aus allen anderen herausgehört. Und sie verstand ihn besser als alle anderen Erwachsenen, die er kannte.
Brainer trottete herbei, wollte getätschelt werden. Teddy kniete sich neben das Fenster, um weiter Ausschau nach seiner Schwester zu halten; sie sollte längst von der Schule zurück sein. Er streichelte das Fell des Hundes, in dem sich wieder Kletten und Zecken verfangen hatten. Es war nun annähernd einen Monat her, seit Kate ihn gewaschen und gebürstet hatte.
Teddy sehnte sich nach einer normalen Familie. Er wollte kein
Außenseiter
sein. Der bei seinem pensionierten Großvater und Maeve wohnte, die Ehre seines Vaters bei Trainern und Mitschülern gleichermaßen verteidigen musste und der Einzige war, der die Haustür öffnete und seine Schwester begrüßte, wenn sie von der Schule nach Hause kam.
Und wenn sie nicht in spätestens zwanzig Sekunden auftauchte, würde er seinen Dad anrufen und ihm sagen, dass sie nicht nach Hause gekommen war, und dann würde er sein Fahrrad schnappen und sich auf die Suche machen. Er sah Amandas Zeitungsfoto vor sich, den Arm, der aus dem Wellenbrecher ragte.
Und genau in diesem Moment hörte er Maggies Reifen auf dem Kies in der Einfahrt knirschen. Er spürte, wie ihn eine Welle der Erleichterung überkam. Sein Herz klopfte wie verrückt, als er hörte, wie das Fahrrad mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden landete. Dann waren ihre Füße auf der Außentreppe zu hören, das Klicken des Riegels, und sie betrat atemlos die Diele. Teddy stellte sich wieder Amanda in dem Wellenbrecher vor und konnte nicht verhindern, dass Tränen in seine Augen stiegen.
»Teddy!«, rief Maggie und stürmte herein. »Du bist ja schon vor mir zu Hause! Wenn ich gewusst hätte, dass du heute nicht trainierst, wäre ich heute Morgen mit dem Bus statt mit dem Fahrrad gefahren!«
Teddy wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, damit sie ihn nicht weinen sah.
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