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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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war ihm das Ausmaß des Leidens derart unter die Haut gegangen wie bei Kate und ihrer Schwester.
    Er hatte gestern bis spät in die Nacht an seinem Schreibtisch gesessen – noch lange nach seinem Anruf bei Kate. Die Zeitung vor ihm ausgebreitet, hatte er geraume Zeit damit verbracht, über den neuen Fall nachzudenken. Ein Wellenbrecher, die Steinkonstruktion am Point Heron; er hatte auf das Foto in der Abendzeitung gestarrt. Ein idyllischer einsamer Ort, mit Felsen und Wasser. Hart und weich, Leid und Erlösung.
    Die Minuten vergingen, aber Greg weigerte sich zu antworten. Er blickte sich stumm im Raum um. Nach einer Weile legte John die Hände auf den Tisch und schaltete sich in die Befragung ein.
    »Ich möchte mich kurz mit meinem Mandanten beraten«, sagte er.
    »Herrgott!«, schimpfte Billy. »Er brüstet sich doch sonst immer mit seiner Zugehörigkeit zu MENSA  – da sollte man meinen, er sei schlau genug, uns dabei zu helfen, den Nachahmungstäter zu fassen …«
    »Sie haben doch keine Ahnung«, sagte Greg.
    »Richtig, ich bin ja bloß ein beschränkter Bulle. Klären Sie mich auf.«
    »Sie haben nicht einmal eine Grundlage, um sich auf diese Fragen zu konzentrieren: Zeitfaktor, Wellenbrecher, wenn ich das schon höre. Sie stellen sie nur, weil sie nach Ihrer Auffassung dazugehören – aber nicht aus einer Intuition heraus …«
    Billy lachte. »Mag sein, dass es mir an Intuition mangelt, aber das liegt vermutlich daran, dass ich sie nicht brauche. Schließlich habe ich Sie auch so geschnappt.«
    »Weil ich es zugelassen habe«, antwortete Merrill sanft.
    »Sie sind der richtige Mann dafür, Greg – Sie wissen es, und ich weiß es, deshalb bin ich hier. Na los – sagen Sie schon, wer dieser Typ ist.«
    »Ich gehe davon aus, dass Sie nicht seinen Namen meinen. Sie möchten von mir hören, wie er ist … was in ihm vorgeht …«
    »Richtig. Seine Motive, wie er tickt.«
    »Von mir erfahren Sie kein Wort. Ich werde nur mit meinem Anwalt reden.«
    »Sie haben ihn gehört, Detective«, sagte John.
    Greg saß reglos da, die Lippen zusammengepresst, bis Billy den Raum verließ. John wusste, dass er später einen Anruf von ihm erhalten würde. Greg sah zu, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, dann blickte er John wutentbrannt an.
    »Hat der Kerl auch nur einen blassen Schimmer, was er
getan
hat?«, fragte Merrill.
    »Detective Manning?«
    »Nein! Derjenige, der
das
getan hat – mit dem Mädchen … Ich sage Ihnen rundheraus: Er hat nichts verstanden. Nichts! Es war der reine Hass, der ihn dazu getrieben hat.«
    »Amanda zu töten?«
    »Weil die Tat bedeutungslos für ihn war. Er hat nichts begriffen – weder die Vision, noch was der Wellenbrecher symbolisiert, oder die steigende Flut. Für ihn hätte eine Müllhalde genügt.«
    »Er hat Sie nachgeahmt.«
    Merrill schnaubte ungeduldig, schüttelte den Kopf. »Das hat nichts zu sagen, weil er es nicht
kapiert.
Träume enthüllen die ganze Wahrheit, richtig?«
    »Ich bin kein Psychologe.«
    »Versuchen Sie mal, Freuds fantastisches Werk über die Symbole, Bedeutung und Macht des Traums zu lesen. Einer geht nahtlos in den anderen über, und keine Nacht ist lang genug, um alle zu erfassen. Träume verleihen uns Flügel, sie sind die Sehnen und Muskeln, die unseren Verstand zusammenhalten … und Körper, Geist und Seele miteinander verbinden.«
    John hörte zu, wohl wissend, dass sein Mandant verrückt war. Greg Merrills Logik machte ausschließlich für ihn Sinn, aber John wollte unbedingt Zugang zu seiner verqueren Denkweise finden und Dinge in Erfahrung bringen – auch ohne Billys Anwesenheit –, die dazu beitragen konnten, etwas über weitere Opfer herauszufinden. Über Willa …
    »Was haben Träume mit Amanda Martins Tod zu tun, Greg?«
    »Niemand – so klug er auch zu sein glaubt – kann meinen Traum vom Wellenbrecher verstehen, meine Vision vom Meer. Freud vielleicht. Jung, ziemlich sicher sogar. Aber andere? Nicht einmal der gewiefteste, fähigste Psychiater wäre dazu imstande. Nicht wirklich. Nicht so klar und einfühlsam, um sich in meine Lage zu versetzen.«
    »Nein?«
    »Und schon gar nicht dieser Scharlatan, dieser Wichtigtuer, dieser andere. Eine Hommage an mich? Vielen Dank, darauf kann ich verzichten.«
    »Erzählen Sie mir von Willa Harris.«
    Greg sah ihn verdutzt an.
    »Von wem?«
    John starrte ihn an. Er kannte seinen Mandant fast ein halbes Jahr, war ihm kurz nach seiner Verhaftung durch die Polizei zum ersten Mal

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