Die geheime Stunde
Armaturenbrett.
»Wer hatte sie die ganze Zeit? In dem Stapel Kataloge vergraben, fünf Monate lang, nachdem sie abgeschickt wurde?«
»Mein Exmann.«
»Ihr …« John war überrascht.
»Andrew.«
»Ich dachte, Sie sagten, das sei der Name …«
»Des Mannes, mit dem meine Schwester eine unglückliche Affäre hatte«, erwiderte Kate ruhig und blickte aus dem Fenster auf das Watt hinaus, das schwarz und glänzend im Dunkel der Nacht lag, auf die Reihe der weißen Wellen, die gegen die Sandbank brandeten. »Andrew Wells war mein Mann.«
»Ihr … Ihr Mann hatte eine Affäre mit Ihrer Schwester?«
»Ja.«
»Tut mir Leid. Das muss schrecklich für Sie gewesen sein.«
Kate war unfähig zu antworten.
Schweigen hüllte sie ein, als John den Wagen wendete. Kate vernahm das leise, gedämpfte Rauschen des eigenen Herzschlags in ihren Ohren. Ihre Mutter war immer ein verschwiegener Mensch gewesen und hatte ihren Kindern beigebracht, Familiengeheimnisse zu bewahren. Erst seit April war Kate bereit zu reden: alles zu offenbaren, was dazu beitragen konnte, Willa zu finden. Dennoch fand sie es sonderbar, dass John der Liebesaffäre mehr Aufmerksamkeit zu widmen schien als dem Verschwinden ihrer Schwester.
Sie fuhren den gleichen Weg zurück. Die Landschaft huschte vorbei; die Rückfahrt kam ihr wesentlich kürzer vor als die Hinfahrt. Kate spürte, dass jeder Atemzug, und sei er noch so flach, schmerzte. Ihr Herz war vor langer Zeit gebrochen worden; manchmal wünschte sie sich nur noch eines, dass ihre Gedanken endlich zur Ruhe kämen, eine Verschnaufpause von all den schrecklichen Erinnerungen erhielten.
Als sie nur noch eine Viertelmeile zu fahren hatten und die Straße sich an der malerischen, vom Flutlicht angestrahlten weißen Kirche vorbeischlängelte, drehte John ihr den Kopf zu. Ihre Blicke trafen sich, versanken ineinander, und Kate war verblüfft über die Tiefe des Gefühls, das sich in seinen Augen spiegelte – ein Schmerz, der sich hinter der Oberfläche verbarg, sein ganzes Sein erfüllte –, und plötzlich wusste sie Bescheid. Sie spürte es, so genau, als hätte er ihre Hand ergriffen und ihr die Geschichte selber erzählt: Er kannte Verrat und Untreue, weil er sie am eigenen Leib erfahren hatte.
»Es
war
schrecklich für mich«, räumte sie schließlich ein.
»Jeder …« Er suchte nach den richtigen Worten. »Jeder Ehebruch ist schmerzlich, aber für Sie muss die Entdeckung noch schlimmer gewesen sein, weil es um Ihre Schwester und Ihren Mann ging.«
»Ich denke schon. Ja. Aber es war nicht ihre Schuld …«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie war erst zweiundzwanzig. Mein Mann hat sich an sie herangemacht, und … später stellte ich fest, oder …« Sie stockte, korrigierte sich. »Vielmehr gestand ich mir ein, dass sie nicht die Einzige war. Wir lebten in Washington, dort gibt es viele hoffnungsvolle junge Frauen … Sie waren leicht zu verführen.«
»Ist er Politiker?«
»Die rechte Hand eines Politikers. Er hat Macht.« Sie schloss die Augen, stellte sich Andrews unbekümmertes Lächeln, seine lachenden Augen, sein welliges Haar und seine forsche Art vor, die Menschen auf Anhieb für ihn einnahm und ihnen vorgaukelte, sie wären wichtig für ihn.
»Sind Sie noch mit ihm verheiratet?«
»Warum? Was hat das mit Willa zu tun?«
Er zögerte, erschrocken über sich selbst. Sie blickte ihn an und sah im schummrigen Licht, dass seine Augen starr geradeaus gerichtet waren, als versuche er, seinen eigenen Zweifeln und Dämonen zu entfliehen. »Ich frage mich nur … ob eine Ehe einen Ehebruch überstehen kann. Oder ob es besser wäre, sie zu beenden – durch eine bewusste Entscheidung.«
»Eine bewusste Entscheidung?« Sie lachte nervös. »Was für andere Möglichkeiten gibt es denn, eine Ehe zu beenden, als …«
Die Antwort lag auf der Hand, genau wie der Grund, der ihn zu der Frage bewogen hatte: durch Tod. Den Tod seiner Frau.
Er antwortete nicht, sah die ganze Zeit nach vorn, auf den Leuchtturm, als könnte dieser Licht in das Dunkel bringen und Antworten auf seine Fragen finden.
»Meine Scheidung war gerade rechtskräftig geworden. Als ich in unsere Wohnung fuhr, um den Rest meiner persönlichen Dinge zu holen, fand ich die Postkarte.«
Seine Augen waren von Kummer und Mitgefühl überschattet gewesen, doch die Erwähnung der Postkarte brachte ihn auf Anhieb in die Wirklichkeit zurück. Kate hätte ihr Worte gerne zurückgenommen – um die Verbindung zwischen ihnen zu
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