Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
ihrem nassen Kleid, im Schatten der hohen Mauer, wurde es Thomasine plötzlich kalt. Zitternd beobachtete sie, wie Nicholas und Lally den gewundenen Weg entlang der Mauer hinabliefen. Sie folgte ihnen nicht, sondern kehrte in den umfriedeten Garten zurück. Dort holte sie ihre schwarzen Florgarnstrümpfe aus ihren Stiefeln und zog sie wieder an, so daß sie an ihren feuchten Füßen festklebten. Sie hatte ihr Haarband verloren, und ihr Haar hing naß und wirr über ihren Rücken hinab. Ihr Rock war feucht, schmutzig und zerrissen. Schließlich hörte sie Lallys Stimme und spürte, wie sie eine Woge der Erleichterung überkam.
    Â»Du bist so geschickt, Daniel. So mutig.«
    Nicholas ließ sich neben Thomasine nieder. »Jetzt bin ich dran.«
    Â»Ich hab eine Aufgabe für dich«, rief Lally. »Ich weiß, was du tun sollst, Nicky!«
    Â»Du bist nicht an der Reihe, Lal. Du brichst die Regeln. Gillory ist dran.«
    Â»Ich hab nichts dagegen.« Daniel schnürte seine Stiefel zu.
    Lally strahlte erwartungsvoll. »Also gut. Du mußt die Person küssen, die du am liebsten magst, Nicky.«
    Ein kurzes Schweigen trat ein. Dann antwortete Nicholas grinsend: »Titus ist nicht da.«
    Ã„rgerlich erwiderte Lally: »Ich meine im Garten. Jemanden im Garten.«
    Nicholas’ gebräuntes Gesicht wurde blaß. »Also wirklich. Das ist ein bißchen viel, einen Jungen zu bitten … Das geht doch nicht …«
    Daniel sagte: »Ich mach’s.«
    In Nicholas’ Gesicht spiegelte sich eine seltsame Mischung widerstrebender Gefühle. Ärger, Abscheu und Erleichterung. »Wenn du willst«, murmelte er.
    Daniel ging zum anderen Ende des Gartens. In der ersten Nische kletterte er, mit den Zehen in dem verwitterten Stein Halt suchend, hinauf. Er umarmte Ledas üppigen Leib und küßte sie auf den Mund.
    Der Anblick prägte sich Thomasine ein wie eine Fotografie. Daniel Gillory in seinen feuchten, schäbigen Kleidern, der die weißen Marmorglieder umarmte und mit dem Mund die kalten, steinernen Lippen liebkoste.
    Sie gingen durch den Wald nach Hause. Thomasine folgte Daniel den schmalen gewundenen Pfad entlang. Daniel schlug mit einem Stock die Brennesseln beiseite und hielt die Äste für sie zurück. Der Wald glänzte, das Unterholz war vom Licht gesprenkelt, das durch die Blätter fiel.
    Daniel nahm ihre Hand, um ihr über den Zauntritt zu helfen. Sie spürte die Wärme seiner Haut, die schwieligen Stellen an seinen Fingerknöcheln. Er hob ihre Hand und drückte die Lippen auf ihren Handrücken. Die Geste wirkte seltsam altmodisch. Das Haar war ihm ins Gesicht gefallen, Thomasine strich es zurück. Seine Haut war gebräunt, aber rauh am Kinn. Da sie von Frauen aufgezogen worden war und die meiste Zeit ihres Lebens mit Frauen verbracht hatte, verspürte sie eine heftige, mit Erregung vermischte Neugier. Als sie vom Zauntritt herunterstieg, umschlangen sie seine Arme. Seine Augen waren wie Goldsprenkel im Dunkel des Waldes, und seine Lippen berührten zart und forschend die ihren.
    Dann schlug die Kirchturmuhr zehnmal, und mit lautem Flügelschlag flatterte ein Fasan aus dem Unterholz auf.
    Â»Du kommst zu spät«, sagte Daniel. »Komm weiter.«
    Thomasine hatte weder Hilda noch Rose von ihren Besuchen in den Gärten von Drakesden Abbey erzählt. Sie hatte nicht gelogen – beide Tanten nahmen schlichtweg an, daß sie diesen Sommer genauso verbrachte wie die fünf vorhergehenden: mit der Erkundung von Drakesden, seiner Felder, Wege und Flüsse. Als sie am nächsten Morgen durch das Wäldchen eilte, schob Thomasine das ungute Gefühl beiseite, daß weder Hilda noch Rose damit einverstanden wäre, wenn sie den ganzen Tag allein mit Nicholas Blythe verbrachte. Doch immer wieder spürte sie nagende Schuldgefühle in sich aufsteigen, die sich zwischen ihre Gedanken drängten.
    Nicholas erwartete sie auf den Stufen zur Vorderseite von Drakesden Abbey. Er führte sie zuerst in die Halle mit der großen geschwungenen Treppe. An den Wänden reihten sich Glasvitrinen, in denen sorgfältig beschriftete Sammlungen von Muscheln, Fossilien, ausgestopften Tieren und Vögeln zu sehen waren. Die schwarzen Glasaugen der Vögel blickten Thomasine teilnahmslos an, aufgereihte tote Wesen, die nicht einmal vor dem Sonnenlicht zurückzuckten, das durch die Fenster

Weitere Kostenlose Bücher