Die geheimen Jahre
war. Thomasine kam der Gedanke, daà seine jüngsten Obsesionen nur wiederum dazu dienten, sich den Pflichten zu entziehen, die ihm nach dem Tod seines Bruders und seines Vaters zugefallen waren.
»Du trägst eine Verantwortung«, wiederholte sie. »Und ob es dir nun paÃt oder nicht: Du bist für die Leute von Drakesden verantwortlich, Nick.« Dann verlieà sie den Raum.
Daniels Verletzungen waren oberflächlich, und die blauen Flecke, die ihm Nicholasâ Männer beigebracht hatten, verschwanden nach ein paar Tagen. Die Verwundung seines Stolzes, seiner Seele, war viel tiefer, viel gefährlicher. Daniel wuÃte jetzt, daà Nicholas Blythe nie an ihn verkaufen würde. Er hatte das Ausmaà des Hasses in seinen Augen gesehen, eines Hasses, der auf Gegenseitigkeit beruhte und der im Laufe der Jahre eher zu- als abgenommen hatte. Er würde nie auf höher gelegenem Land ein besseres Haus für Fay bauen. Er würde nie die Felder besitzen, die er so gern haben wollte. Fay müÃte sich daran gewöhnen, daà jedes Frühjahr Wasser durch den Küchenboden drang. Daniel müÃte ihr ein Wohnzimmer auf Torf bauen, in das sich keine festen Fundamente legen lieÃen. Die Kinder in Drakesden würden weiterhin an Krankheiten sterben, die durch ordentliche Ernährung und trockene Behausungen verhindert werden könnten, und Daniels eigenes Land geriete mit jedem Jahr in gröÃere Gefahr, überschwemmt zu werden.
Thomasine fuhr fort, die Speise- und Wäschekammern von Drakesden Abbey zu plündern, immer auf der Suche nach warmen Decken und warmer Kleidung. Die Taschen den Hügel der Insel hinunterzutragen fiel ihr zunehmend schwerer. Eines Abends im Spätfrühling, als es dunkel wurde und der Himmel mit Sternen übersät war, muÃte sie sich ganze zehn Minuten im Wäldchen niedersetzen, bevor sie weitergehen konnte. Die Tage darauf fuhr sie mit dem Delage ins Dorf, den sie vorsichtig über den schlammigen, zerfurchten Weg steuerte.
Die Auseinandersetzung mit Nicholas war nicht ausgetragen, sondern von ihm abgewürgt worden, dachte sie verbittert. Nicholas vermied Konflikte und Ãrger genauso, wie er seinen Pflichten aus dem Weg ging. Ganz so, als hätte er eine Mauer um sich errichtet, dachte sie oft, die nicht einmal sie überwinden konnte.
Sie beschloÃ, Mrs. Dockerill zu besuchen. Wie Nicholas gesagt hatte, schienen die Dockerills mit ihrer Armut und den Widrigkeiten des harten Landes besser zurechtzukommen. Mrs. Dockerill führte Thomasine in das Cottage mit den zwei Zimmern, und einen Moment lang fühlte sie sich in die Jahre vor dem Krieg zurückversetzt. Nichts hatte sich verändert, dachte sie. Noch immer gab es den Herd, den blankgescheuerten, zerkratzten Tisch und den köstlichen Duft des Puddings, der in einem Topf kochte.
Aber sie täuschte sich. Etwas hatte sich geändert. Mrs. Dockerill machte sich nicht wieder ans Teigkneten und forderte Thomasine nicht auf, sich Rosinen aus der Büchse nehmen. Statt dessen blieb sie stehen, trocknete sich die Hände an der Schürze ab und sah sie argwöhnisch an.
Verärgert sagte Thomasine: »Ich werde nicht in Ihren Töpfen rumschnüffeln, Mrs. Dockerill, und Ihnen sagen, was Sie zu kochen haben!« Sie sah, wie sich der Ausdruck auf dem Gesicht der älteren Frau ein wenig entspannte. Ein Stuhl wurde herangezogen und mit der mehligen Schürze abgewischt.
»Dann setzen Sie sich und sagen mir, weshalb Sie hier sind, Euer Ladyschaft.«
Die Förmlichkeit lieà Thomasine zusammenzucken. Aber sie setzte sich und spürte, daà ihre Beine und ihr Rücken schmerzten, wie so oft in letzter Zeit.
»Ich bin gekommen, um Sie um Rat zu fragen, Mrs. Dockerill.«
Mrs. Dockerill war zu ihrer Arbeit zurückgekehrt. Ihre groÃen roten Hände kneteten den Teig und streuten Mehl auf ein Brett.
»Wegen dieser Epidemie, meine ich. Drei Kinder sind bis jetzt gestorben â¦Â«
»Vier«, unterbrach Mrs. Dockerill, und Thomasine starrte sie an.
»Die Kleine von Mary Gotobed ist heute morgen gestorben.«
Sie schloà einen Moment die Augen. Seit das Kind krank geworden war, hatte sie es fast jeden Tag besucht und das winzige, ausgezehrte Wesen liebgewonnen.
»Aber ich dachte, es würde ihr bessergehen«, sagte sie leise. »Ich dachte, sie hätte gestern weniger
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