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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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und wieder bemerkte sie, wie Interesse in seinen Augen aufflackerte. Ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, und ihr wurde bewußt, wie sehr sie diese Art von Erregung vermißt hatte. Keiner der Männer in Drakesden war einen zweiten Blick wert. Es waren bloß Bauerntölpel, alle zusammen.
    Sie sagte: »Nun, ich muß mich wieder auf den Weg machen«, und streckte die Hand aus. Durch ihre dünnen Handschuhe spürte sie den Druck seiner Finger. Als er um die Ecke gebogen war, lief sie schnell zu seinem Haus zurück. Vorsichtig, auf Zehenspitzen, huschte sie über den Eingangsweg und las, was auf dem Messingschild stand.
    Â»Dr. A. Lawrence, praktischer Arzt«, war darauf zu lesen. Sie ging zur High Street zurück und spekulierte aufgeregt über den Buchstaben »A«. Adam, Alan, Albert … kein Name schien wirklich zu ihm zu passen.
    Als sie beim Kleiderladen angelangt war, öffnete sie die Tür und trat ein. »Ich würde gern das rosa Chiffonkleid aus dem Fenster anprobieren«, sagte sie herablassend zu der Verkäuferin.
    Im Umkleideraum sah sie sich im Spiegel an. Das Kleid paßte wie angegossen.
    Es war nur allzu einfach, getrennte Leben zu führen: Nicholas überwachte die lärmigen und aufwendigen Arbeiten der Installateure beim Legen der Warmwasserleitungen, Thomasine verbrachte fast den ganzen Tag draußen.
    Der Mai war trocken und warm. Wie Mrs. Dockerill prophezeit hatte, verschwand das Fieber langsam, als die feuchten Cottages im sonnigeren Wetter wieder trocken wurden. Aber die Wärme brachte die Insekten hervor. Nachdem sie einmal ein Haus besucht hatte, in dem es besonders von Flöhen wimmelte, mußte sie sich während des gesamten Nachmittagstees unablässig kratzen. Als sie sich später zum Abendessen umzog, stellte sie fest, daß ihr ganzer Körper von Flohbissen übersät war. Außer sich vor Entsetzen schrubbte sie sich in einem von Nicholas’ halbfertigen Badezimmern ab und wusch ihre Kleider höchstpersönlich, bis sie sicher war, das Ungeziefer los zu sein.
    Wie betäubt vor Unwohlsein und Mattigkeit schleppte sie sich von der Abbey ins Dorf und vom Dorf um die Farm. Den Delage konnte sie nicht mehr benutzen, sie paßte einfach nicht mehr hinein. Dr. Lawrence tadelte sie und befahl ihr zu ruhen, aber das konnte sie nicht. Nirgendwo fühlte sie sich wohl, im Wintergarten war es zu heiß, im übrigen Haus lagen Rohre herum, und die Arbeiter hämmerten und sägten unablässig. Nach dem Streit mit Nicholas hatte es keine Versöhnung gegeben, und die kritischen Blicke von Lady Blythe machten es ihr unmöglich, sich in Gesellschaft ihrer Schwiegermutter wohl zu fühlen. Manchmal mußte sie sich eingestehen, daß sie auf Drakesden Abbey vollkommen einsam war. Draußen konnte sie zumindest mit Joe Carter oder Mrs. Dockerill reden, mit der sie gelegentlich eine Tasse Tee trank. Immer noch belastete sie das schier erdrückende Gefühl ihrer eigenen Nutzlosigkeit. Aber wenn sie die Männer schon nicht angemessen bezahlen konnte, brachte sie den ärmsten Haushalten wenigstens die Essensreste vom Tisch der Abbey. Sie schämte sich zwar für dieses Verteilen von Almosen, für das sie früher nur Verachtung empfunden hatte, dennoch war es im Moment alles, was sie tun konnte.
    Als ihr mit einem Korb voller Lebensmittel im Arm auf halbem Weg über die Wiese schwindelig wurde, wußte sie, daß Dr. Lawrence mit seinem Tadel recht gehabt hatte. Sie setzte sich ins Gras und schloß die Augen. Schmerz durchfuhr ihren ganzen Körper – ihren Rücken, ihren Bauch, ihre Schenkel. Als sie die Augen wieder öffnete, wußte sie, daß sie nur für kurze Zeit Erleichterung gefunden hatte und nach Drakesden Abbey zurückkehren mußte. Sie war allein, auf den angrenzenden Feldern waren keine Arbeiter, und keines der Cottages befand sich in Hörweite. Sie ließ den Korb in der Mitte der Wiese stehen und begann langsam, halb kriechend, nach Hause zurückzukehren. Immer wieder mußte sie innehalten, sich an einen Baum lehnen oder einfach stehenbleiben und verzweifelt versuchen, das Gleichgewicht zu halten, wenn der entsetzliche Schmerz sie erneut packte.
    Als sie schließlich durch das Tor des Obstgartens taumelte, entdeckte sie eines der Küchenmädchen, das gerade Rhabarber für Kuchen schnitt. Sie schaffte es, den Namen des

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