Die geheimen Jahre
übergewichtig, und das wegen der vielen Puddings in der Schule.
Leute, die sie kannte, kamen und gingen: Julian und Boy, Simon und Pip. Manchmal tanzte sie, manchmal redete sie mit ihnen. Sie kauften ihr Drinks, gaben ihr Feuer, küÃten sie flüchtig auf die Wange. Ihre Gesichter verschwammen zu einem einzigen Brei, sie konnte sich nicht an ihre Namen erinnern. Der Zorn und die Angst lieÃen nicht nach, begleiteten den Rhythmus der Ragtime-Musik. Sie fühlte sich vom Rest der Gesellschaft abgetrennt, ganz allein. Sie fand, daà die Leute, die mit ihr redeten â ihre Freunde schlieÃlich â, doch merken müÃten, wie sie sich fühlte, aber das war nicht der Fall. Sie kamen und gingen, redeten oder schwiegen, lachten und tanzten. SchlieÃlich begann sie sich zu fragen, ob sie real waren. Ob sie selbst überhaupt hier war, oder ob sie alles nur träumte. Ihre Angst nahm zu, wurde fast panisch, und sie erhob sich und bahnte sich einen Weg durch die pulsierende Menge aus Scheichs, Nofreteten und ägyptischen Sklavinnen zur Damentoilette.
Wenn sie in den Spiegel sähe, dachte sie, wenn sie ihr Spiegelbild sähe, wäre sie beruhigt. Sie würde feststellen, daà sie hier war, real war, daà es keinen Grund gab, Angst zu haben. Dann würde sie ein Taxi rufen und zu Belles Haus zurückfahren. Auf dem Weg zur Damengarderobe kämpfte sich Lally an dem Sarkophag vorbei den Gang hinunter, dessen Dekoration an den Eingang einer Pyramide erinnern sollte.
Nur ein paar Mädchen und die Garderobiere waren in dem Raum. Die Garderobiere nähte den abgerissenen Saum eines Mädchens fest, ein anderes Mädchen zog mit einem Kajalstift die Augen nach. Bilder von ägyptischen Göttern klebten an den Kabinentüren, und Decke und Wände waren mit glänzendem Goldstoff verkleidet. Der Raum war eng und überheizt. Lally wusch sich die Hände, wischte den angelaufenen Spiegel ab und blickte sich an.
Sie sah ein kleines, hohlwangiges Gesicht, leichenblaÃ, von streng geschnittenem dunklem Haar umrahmt. Die Augen waren zwei schwarze Höhlen. Es war nicht ihr Gesicht, sondern das einer anderen, einer Toten. Auf einer Seite des Totengesichts befand sich ein Falke, auf der anderen ein Schakal.
Lally öffnete den Mund, um zu schreien, aber kein Ton kam heraus. Sie war unendlich erleichtert, als die Bilder vor ihr verschwammen, sich auflösten und nur noch Dunkelheit übrigblieb.
Als Thomasine im Frühling mit Joe Carter über die Güter von Drakesden Abbey ritt, spürte sie einen Anflug von Befriedigung. Am Rand von Pottersâ Field stieg sie ab und blickte auf die winzigen grünen SchöÃlinge, die durch die schwarze Erde brachen.
»Alles entwickelt sich ganz wundervoll, Joe. Sie haben gute Arbeit geleistet.«
Joe Carters Antwort bestand aus einem Brummen. Aber er zupfte an den Spitzen seines Barts, was als sicheres Zeichen galt, daà er sich freute.
Diese Ernte war lebenswichtig, um den Verlust des letzten Sommers wettzumachen. Thomasine wuÃte nur allzugut, daà Drakesden Abbey kein weiteres schlechtes Jahr überstehen würde.
»Ich dachte â¦Â«, begann sie zögernd, weil sie nie vergaÃ, wie wenig sie wuÃte und wie unerfahren sie noch war, »ich dachte, wir sollten uns auf eine breitere Produktpalette verlegen. Weizen bringt doch keinen groÃen Profit ein, stimmtâs, Joe?«
Der Vorarbeiter spuckte auf den Boden. »Auf den Abbey-Feldern wurde immer Weizen angebaut, Euer Ladyschaft. Der Boden ist gut dafür.«
Die Frühlingsbrise war beiÃend kalt. Thomasine knöpfte den obersten Knopf ihres Mantels zu.
»Dann ist er auch für andere Früchte gut.«
Carter schwieg, aber er sah sie nicht mit jener Mischung aus Ablehnung und Zorn an wie früher. Sie wuÃte, daà er darauf wartete, daà sie fortfuhr.
»Ich dachte â schwarze und rote Johannisbeeren, so etwas Ãhnliches.«
Sie hatte zwei Bilder vor Augen. Einmal den Garten von Quince Cottage, den die gärtnerisch begabte Rose mit Johannisbeer-, Himbeer- und Stachelbeersträuchern bepflanzt hatte. Zum anderen Daniel Gillorys Land, das Land, das an Drakesden Abbey grenzte. Die mit Netzen bedeckten Pflanzenreihen, die sie letztes Jahr gesehen hatte, als sie Daniel besuchte.
»Mühsam durchzubringen, Euer Ladyschaft«, antwortete Carter zweifelnd. »Wenn die Vögel sie nicht fressen, dann die
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