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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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sein Glas weggeschoben. Seine Finger verknoteten sich ineinander. »Und so viele Menschen sind gestorben – oder fortgegangen …«
    Einen flüchtigen, quälenden Moment lang fiel ihm Thomasine Thorne ein. Thomasine war anders gewesen, aufregend und stark. Sie hatte ihn in gewisser Weise an seine Mutter erinnert – schön und doch so sicher, so furchtlos. Seit dem Krieg hatte er selbst alle Sicherheit verloren, dachte er voller Selbsthaß, er fürchtete sich inzwischen vor fast allem. In Drakesden gab es außer seiner Mutter und Schwester keine Frauen seines Standes. Für die jungen Damen, die seine Mutter gelegentlich zu Wochenendpartys einlud, brachte er angesichts ihrer Naivität und Frivolität keine größeren Gefühle als milde Gereiztheit auf. Er hatte einfach nichts mit ihnen gemeinsam.
    Lally sah ihn an. Seine dunklen Augen waren ein wenig zusammengekniffen. »Es macht dich krank, nicht wahr?«
    Er sah zu ihr auf, und sein Bier schwappte über den Rand des Krugs.
    Â»Niemanden schert das, du Dummkopf. Kein Grund zur Sorge.« Sie berührte seine Hand. »Wir sollten ins Ausland gehen, Nick. Nur du und ich.«
    Nicholas lachte ein wenig zu laut. Alle Männer im Pub drehten sich um und starrten ihn an. »Mach dich nicht lächerlich, Kleine. Sie würden uns nie lassen.«
    Â» Lassen ? Am besten, man tut einfach, was man will. So mach ich es jedenfalls.« Sie hatte ausgetrunken. »Außerdem, mein lieber Nicholas, bist du zweiundzwanzig. Mama könnte dich nicht aufhalten. Du hast doch selbst Geld, oder?«
    Er nickte. Er hatte noch seine Abfindung und ein kleines Erbe von einem Onkel, der im Krieg gefallen war. Und den Betrag, den sein Vater ihm zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Davon hatte er noch keinen Pfennig angerührt – in Drakesden gab es nichts, wofür man Geld ausgeben konnte.
    Â»Ich wollte mir ein Auto kaufen.«
    Â»Das kannst du dir kaufen, wenn wir im Ausland sind.« Lally lächelte ihn einschmeichelnd an und legte ihre kleine pummelige Hand auf die seine. »Ich werde Kleider kaufen – eine Riesenmenge.«
    Fast glaubte er an ihren Vorschlag. Er sah sich in Paris oder Monaco mit großer Geschwindigkeit über eine Küstenstraße oder einen Stadtboulevard fahren, immer schneller und schneller.
    Â»Und stell dir nur vor, wie sehr sich Mama freuen würde, wenn ich fort wäre«, fügte Lally selbstgefällig hinzu.
    Sie stand auf und ging zur Tür. Nicholas bemerkte, wie die Blicke aller Männer im Raum seiner kleinen dicklichen Schwester in den unmodischen Kleidern und dem häßlichen Hut folgten.
    Auf dem Weg zurück nach Drakesden schaltete er in den höchsten Gang und drückte das Gaspedal des Daimlers durch.
    Der Weg war lang und gerade. Riesige Staubwolken wirbelten um sie auf. Sie wurden heftig durchgerüttelt, und Nicholas rief Lally zu, sich an der Lehne festzuhalten. Felder, Deiche und Häuser flogen an ihnen vorbei und verschwammen in einem Schleier aus Grau und Grün. Als sie Geschwindigkeit aufnahmen (vierzig, fünfzig, sechzig), spürte Nicholas, daß er sich besser fühlte. Autofahren war besser als Reiten. Selbst Titus konnte nicht so schnell galoppieren.
    Schließlich fiel ihm Lally ein, und er bremste. Der Daimler geriet auf der staubigen Straße ins Schleudern. Als er langsamer wurde, kam Nicholas’ Angst zurück.
    Â»Geht’s dir gut, Kleine? Nicht schlecht geworden?«
    Zuerst dachte er, sie würde weinen, aber dann stellte er fest, daß sie lachte.
    Â»Wir könnten ein Flugzeug nehmen, Nicholas«, sagte sie. »Stell dir das vor!«

4
    ZUR SILVESTERFEIER DES neuen Jahres – und des neuen Jahrzehnts – hatte das Ensemble der Revue O Lisette! das Café neben dem Theater in den schrillen Farben der Ballets Russes geschmückt: Orange, grelles Pink, Limonengrün, Chromgelb und Lanvin-Blau. Luftschlangen hingen von der Decke, und um Tisch- und Stuhlbeine waren Papierschleifen geschlungen. Alle waren da: Sänger, Schauspieler, Musiker, Tänzer, Requisiteure und Garderobieren. In einer Ecke des kleinen Montmartre-Cafés spielte eine Jazzband, und das Raunen das Saxophons und das Hämmern des Schlagzeugs mischten sich mit pulsierendem Rhythmus unter die lauten Gespräche und die Schritte der Tanzenden.
    Die zwölf Revuetänzerinnen von O Lisette! waren allesamt Engländerinnen

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