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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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und hauptsächlich wegen ihrer Größe, ihrer langen Beine und ihres klaren Teints engagiert worden. Tag und Nacht wurden sie von einer Anstandsdame beaufsichtigt, aber an diesem besonderen Abend hatte man ihnen erlaubt, länger auszubleiben.
    Â»Bis ein Uhr«, murrte Alice. »Was soll eine Neujahrsparty bringen, wenn man um eins heimgehen muß?«
    Â»Hängt ganz davon ab, wie schnell man ist«, antwortete eine große Blondine, die neben Alice saß.
    Alice folgte dem Blick ihrer Nachbarin. Einige der Tische und Stühle in der Mitte des Lokals waren beiseite gerückt worden, um Platz fürs Tanzen zu machen. Die Takte des Saxophons, Klaviers und Schlagzeugs waren schneller geworden. Die Leute schlugen mit Glöckchen, Rasseln, Messern und Gabeln den Rhythmus mit.
    Â»O Poppy« , sagte Alice.
    Poppys Kinn ruhte in ihren Händen, und der Blick ihrer großen blauen Augen war auf einen dunkelhaarigen Mann gerichtet, der an der Wand lehnte. Sein Profil wurde durch die flackernden Gaslampen erleuchtet; in einer Hand hielt er eine Zigarette, in der anderen ein Glas.
    Â»Clive Curran.« Alice goß Wasser in ihren Pernod und schüttelte den Kopf. »Unartige, schlimme Poppy.«
    Poppy streckte Alice die Zunge heraus. »Ach, wären wir das nicht alle, wenn wir Gelegenheit dazu hätten?«
    Â»Thomasine nicht. Thomasine ist nie unartig. Thomasine ist die Enkelin eines Pfarrers, nicht wahr, meine Liebe?«
    Poppy seufzte. »Hat ja ohnehin keine von uns eine Chance. Der liebe Clive sieht die Mädchen aus der Tanzgruppe nie an. Für ihn sind wir bewegliche Kulissen.«
    Alice sammelte unausgerollte Luftschlangen vom Deckel des Klaviers, von Tisch und Boden auf. Als sie etwa ein Dutzend beisammenhatte, kletterte sie von ihrem Stuhl auf den Tisch. Der wackelige Tisch schwankte unter ihrem Gewicht.
    Â»Alice …«
    Â»Ich krieg einen Kuß von Clive Curran, bevor die Nacht vorbei ist. Wetten?« Alice zielte mit der Papierschlange. »Der erste Cocktail des neuen Jahres, Pops – den bezahle ich, wenn ich treffe, wenn nicht, bezahlst du!«
    Die erste Luftschlange wirbelte über die Köpfe der Tanzenden und traf den an der Wand lehnenden Mann an der Schulter. Bunte Papierkringel ergossen sich über sein Jackett. Alice zielte immer wieder von neuem. Bald waren seine Schultern, sein Kopf und sein Rücken mit gelben, pink- und orangefarbenen Papierspiralen überzogen.
    Â»Er kommt«, sagte Alice. Sie beobachtete, wie sich Clive Curran den Weg durch die Tische und die Tanzenden bahnte. Während er näher kam, tat er so, als hätte er große Mühe, sich von den Luftschlangen zu befreien. Alice stand immer noch auf dem Tisch.
    Â»Wir finden nicht, daß Sie sehr patriotisch sind, Mr. Curran. Hier sitzen drei vaterlandsliebende Engländerinnen, die noch nicht zum Tanzen gekommen sind – zumindest während der letzten zehn Minuten nicht.«
    Langsam ließ Clive Curran den Blick über Alice streichen, von ihren hochhackigen Schuhen bis zu ihrem kurzen blonden Haar.
    Â»Wie unaufmerksam von mir. Ich hab die Bombardierung verdient, Miss …?«
    Â»Johnson. Und das ist Miss Barrett und das Miss Thorne.«
    Â»Sehr erfreut«, erwiderte Clive Curran und lächelte alle an.
    Thomasine hatte ihn schon oft gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. Clive Curran war Sänger, obwohl er auch in einigen Sketches der Revue als Schauspieler auftrat, da sein Französisch genauso gut war wie sein Englisch. Manchmal verweilte sie hinter der Bühne, wenn er sang, schloß die Augen und ließ sich von der Schönheit seiner Stimme becircen. Kein Wunder, daß alle zwölf englischen Tänzerinnen in Clive Curran verknallt waren.
    Er half Alice vom Tisch herunter. Alice schwankte ein bißchen, als sie den Boden erreichte, und lehnte sich an ihn. »Huch – wahrscheinlich ein Pernod zuviel.«
    Â»Teuflisches Zeug, Miss Johnson«, sagte Clive Curran und stützte sie mit dem Arm.
    Die Tanzmusik wurde immer schmissiger. Unterm Tisch trommelte Thomasine mit dem Fuß den Rhythmus mit. Clive Curran sah die drei Mädchen prüfend an.
    Â»Die Frage ist nur – mit wem ich zuerst tanzen soll? Die Wahl fällt mir schwer.«
    Langsam strich der Blick seiner hellen, mattblauen Augen von Alice zu Poppy und schließlich zu Thomasine, wo er lange verweilte. Thomasines Herz begann laut zu klopfen.
    Clive

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