Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
Gebäude mit den schmiedeeisernen Balkonen, den unbeleuchteten Fenstern und verschlossenen Türen hinauf.
    Â»Es ist kein Kloster, sondern eine Festung.«
    Alice steckte ihren Schlüssel ins Schloß. »Dennoch gibt es einen Fluchtweg, Mr. Curran. Die Hinterseite ist mit hübschem altem Wein bewachsen, und über der Tür gibt es ein sehr praktisches kleines Vordach. Sie sollten mal sehen, wie behend ich darüber herunterklettere.«
    Sie hatte aufgesperrt. Thomasine bemerkte, daß alle drei von ihnen darauf warteten, daß etwas passierte – was, wußte sie nicht. Daß Clive Curran sie wieder küßte vielleicht, mit ihnen allen auf der Straße tanzte oder ihnen sagte, daß er noch nie in seinem Leben einen so wundervollen Abend erlebt habe.
    Aber der Moment verstrich, die Tür ging auf, die Concierge streckte den Kopf heraus und funkelte sie böse an. Und Clive Curran lüftete den Hut und ging von dannen.
    Paris war bunt und aufregend, verglichen mit dem grauen, nebeligen London der Nachkriegsjahre. Die Straßencafés, die modisch gekleideten Frauen, die hellerleuchteten Gebäude, alles war so anders. Zum Frühstück schwarzen Kaffee zu trinken und Croissants zu essen statt Tee und Toast, und sich an langes Aufbleiben und verschlafene Nachmittage zu gewöhnen, war aufregend. Während sie die Champs-Elysées hinunterging, die Schaufenster der eleganten Kaufhäuser ansah oder die Antiquitätengeschäfte und Buchläden in St. Germain durchstöberte, dachte Thomasine: Ich bin hier, und ich bin frei.
    Clive Curran allerdings hatte seit Silvester nicht mehr mit ihr geredet. Die Schauspieler und Sänger probten getrennt von den Tänzerinnen, so daß sie ihn nur bei Abendvorstellungen oder Matineen traf. Wenn sie sich in den Seitenkulissen versteckte und ihm beim Singen zuhörte, konnte sie kaum glauben, daß er sie geküßt hatte. Oder daß der Kuß irgend etwas Besonderes gewesen sein sollte – schließlich hatte er außer ihr auch Alice und Poppy geküßt, sagte sie sich. Er hatte mit ihnen allen getanzt, weil er unfähig gewesen war, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Poppy hatte recht gehabt: Clive Curran verschwendete keinen Blick an die Mädchen aus der Tanzgruppe. Thomasine wußte, wie albern es war, etwas anderes anzunehmen.
    Bei unzähligen Tassen Kaffee in kleinen lauschigen Lokalen oder nachts im Schlafzimmer bei einem Kakao – immer redeten sie über ihn. Ob Clive in Clara Rose verliebt war, ob Clara Rose in ihn verliebt war, ob er sich beim Film bewerben sollte. Poppy war überzeugt, daß er das sollte, während Thomasine einwandte, daß dann niemand seine herrliche Stimme hören könnte. Wie alt er war – neunundzwanzig –, hatte Alice irgendwo aufgeschnappt. Wen er heiraten würde. Ein nettes Londoner Mädchen, kicherte Alice und strich über ihre Locken. Eine reiche Frau, sagte Poppy traurig.
    Eines Nachmittags ließ Thomasine ihr Haar abschneiden. Es war sehr kalt, und die Gärten und Dächer von Paris waren mit Rauhreif bedeckt. Auf den Gehsteigen glitzerte Eis. Poppy verstauchte sich den Fuß, als sie eines Morgens aus der Pension hinauslief, und konnte eine Woche lang nicht tanzen. Der Himmel war dunstig blau, die Pariser Frauen verbargen die Nasen in ihren Pelzen, an den Händen trugen sie Handschuhe aus blaß pastellfarbenem Ziegenleder.
    Sie wollte sich das Haar eigentlich nur ein wenig kürzen lassen. Aber als sie in den Spiegel sah, während die Friseuse ihre Zöpfe löste, war sie höchst unzufrieden mit ihrem Anblick. Die blasse Haut, die schulmädchenhafte Frisur, die großen Augen. Unschuldige Augen, dachte Thomasine grimmig. Ihr Gesicht wirkte kindlich und unausgeprägt. Die Geschehnisse ihrer Vergangenheit – der frühe Tod der Eltern, der Verlust ihrer Heimat in Afrika und später in Drakesden – schienen keine Spuren bei ihr hinterlassen zu haben. Sie wußte, daß die älteren, erfahreneren Mädchen wie Alice und Poppy sie immer noch als Kind ansahen. Sie war zu stolz, um Alice oder Poppy die Fragen zu stellen, die sie von ihrer Unwissenheit befreit hätten, außerdem wußte sie nicht, was sie fragen sollte.
    Die Friseuse hatte ihre Zöpfe ausgekämmt und begann, die Spitzen zu schneiden. »Non, Mademoiselle« , sagte Thomasine in dem leicht radebrechenden Französisch, das sie

Weitere Kostenlose Bücher