Die geheimen Jahre
lächelte. »Ich kann mich nicht entscheiden. Es ist ganz unmöglich. Ich werden eben mit Ihnen allen tanzen müssen.«
Er streckte die Hand aus und half Poppy und Thomasine beim Aufstehen. Zu viert tanzten sie in der Mitte der wogenden Menge. Den Jog Trot, den Vampire, den Missouri Walk und den Shimmy, wobei sie abwechselnd in Clive Currans Armen lagen. Die Musiker spielten die neuesten Titel aus den Revuen und Musicals von Paris und London. Die Mitwirkenden von O Lisette! sangen lauthals die Refrains mit. Obwohl sich Thomasine zuvor müde gefühlt hatte â die Folge von mehr als vier Monaten endloser Proben und zwei Vorstellungen pro Tag â, war all ihre Müdigkeit verflogen, als sie tanzten. Der hämmernde Rhythmus der Trommeln, das wilde Geheul des Saxophons, das Klingen der Glöckchen und Pfeifen trieb sie alle an. Der Raum erbebte unter dem Stampfen der tanzenden FüÃe. Die Gläser und Flaschen auf den Tischen und der Bar zitterten im Takt mit. Gesichter flackerten in der Dunkelheit auf, während Thomasine tanzte: die Gesichter der Tänzerinnen, mit denen sie aus England gekommen war und die jetzt alle in einer Pension zusammenwohnten, die Gesichter des Ensembles und des Bühnenpersonals, das für sie zuständig war. Alices Gesicht, Poppys Gesicht, Clive Currans Gesicht. Es gefiel ihr, Clive anzusehen â sein dunkles, kurzgeschnittenes Haar, seine geschwungenen Lippen und die blauen Augen mit den schweren Lidern. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte sie ihn an.
Dann brach die Musik ab, Champagnergläser wurden herumgereicht, und der groÃe Countdown begann: Zehn, neun, acht, sieben, sechs. Die letzten Sekunden des alten Jahrzehnts wurden von allen laut mitgezählt. Als sie die Null erreicht hatten, rief jemand: »Auf die zwanziger Jahre!«, und alle jubelten.
»Sie haben Ihren Champagner nicht getrunken.«
Clive Curran stand ihr gegenüber. »Sie müssen Ihren Champagner trinken, Miss Thorne.« Vorsichtig hob er ihr Glas an ihre Lippen. »Und dann müssen Sie mich küssen. Um das neue Jahr zu begrüÃen, verstehen Sie?«
Sie nahm einen Schluck Champagner. Dann berührten seine Lippen die ihren. »Köstlich«, sagte Clive Curran. »Auf 1920.«
Er tanzte noch einmal mit ihr in dieser Nacht. Es war fast eins, und Thomasine wollte gerade Mantel und Tasche holen, als er plötzlich neben ihr stand und seine Hand auf ihre Schulter legte.
»Sie können doch noch nicht gehen, Miss Thorne.«
Der Champagner und das Tanzen hatten sie zwar ziemlich benebelt, aber sie hatte die Strafe, die auf zu spätes Heimkommen stand, nicht vergessen. »Die Concierge wird mich melden, und dann verliere ich meinen Job ⦠Na schön â¦Â« Sie lächelte und streckte ihm die Arme entgegen.
Er führte sie in die Mitte des Raums. Die Musik war langsam und traurig. Paare tanzten eng umschlungen, sie bewegten sich kaum.
»Legen Sie Ihren Kopf hier drauf«, sagte Clive Curran und deutete auf die Höhlung an seiner Schulter. »Herrlich.«
Seine Arme umschlangen sie, seine Hände streichelten über ihren Rücken. Thomasine spürte seine Fingerspitzen durch den dünnen Stoff ihres Kleids und ihres Unterrocks. Von ihm gehalten zu werden fühlte sich warm und aufregend neu an. Sie roch den Duft seiner Haut und spürte die Hitze seines Gesichts, als er das ihre berührte. Sie glaubte, seine Lippen strichen über ihr Haar, aber sie war nicht sicher.
Die Musik hielt inne. »Fünf vor eins«, sagte Clive Curran mit einem Blick auf seine Uhr. »Ich bringe Sie heim, SüÃe.«
Die Luft drauÃen war klar und kalt. In ihre Mäntel und Schals gehüllt, warteten Alice und Poppy vor dem Café. Thomasine hängte sich bei Clive ein, Alice nahm seinen anderen Arm. Poppy marschierte, ihre Tasche schwingend, ein Stück vor ihnen her und sang vor sich hin.
»Wo ist das Nonnenkloster?« fragte Clive.
Alice beschrieb den Weg zu ihrer Pension. Thomasine atmete die eisige Luft ein und sah zu den Sternen hinauf, die am Himmel funkelten. Paris trug zwar immer noch die Spuren der Bombardierung von vor zwei Jahren, aber das zerstörte Mauerwerk und die Löcher im Trottoir wurden von den Menschen verdeckt, die singend in den StraÃen tanzten.
»Iâm for ever blow-ing bubbles«, sang Poppy.
Sie hatten ihre Pension erreicht. Clive sah an dem hohen schmalen
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