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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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langweilig für ihn. Er stellte fest, daß er bis zu diesem Moment gar kein Interesse gehabt hatte, mehr zu kriegen als einen einzigen, keuschen, nach Champagner schmeckenden Kuß.
    Â»Unberührte Gebiete haben immer eine gewisse Anziehungskraft – jungfräuliche Gebiete in diesem Fall.«
    Alices flache Hand traf ihn hart an der Wange. Als sie fortstolzierte, hob Clive die Finger ans Kinn, um zu prüfen, ob sie ein Mal oder eine Verletzung hinterlassen hatte. Dann ging er in seine Garderobe und schrieb eine Nachricht an Thomasine Thorne.
    Obwohl dieser Winter gegenüber dem vorhergehenden eine große Verbesserung gebracht hatte – und noch eine größere gegenüber dem Winter davor –, hatte Daniel noch immer nicht das Gefühl, Fuß gefaßt zu haben. Er hatte in einer kleinen Werbeagentur in Soho Arbeit gefunden und verdiente für das Abfassen verlogener Sprüche, die dem Verkauf fragwürdiger Produkte dienten, genug zum Leben. Die Agentur, die aus Exoffizieren bestand – aus Männern, die wie er zum Dienst nicht mehr taugten – und aus cleveren jungen Frauen, war halbwegs angenehm. Aber London bedrückte ihn noch immer: Immer noch war er gezwungen, anstelle der U-Bahn Straßenbahnen oder Busse zu nehmen, und wenn er einen schlechten Tag hatte, war selbst eine überfüllte Tram unerträglich. Doch das stand er durch, denn am Ende des Tages gab es Fay.
    Oder besser gesagt, am Ende mehrerer Tage. Manchmal sah er sie zweimal die Woche, manchmal nur am Wochenende, und zuweilen verstrichen drei Wochen, ohne daß sie sich sahen. Wenn sie sich weigerte, ihn zu treffen, war ihre Absage höflich, freundlich und sorgfältig begründet, aber es blieb dennoch eine Absage. Wenn Fay zögernd eine Show oder einen Ausflug vorschlug, änderte Daniel immer seine Pläne, um ihr zu entsprechen. Er hätte gar nicht anders handeln können.
    Mehr als die Unregelmäßigkeit ihrer Treffen machte ihm die körperliche Frustration zu schaffen, die er auszuhalten hatte. Ihm wurde erlaubt, sie zu küssen, ihre Hand zu halten, in der Dunkelheit des Kinos oder bei einem Ausflug in die Umgebung von London an abgeschiedenen Plätzen ihre Brüste zu berühren. Er glaubte, daß sie seine Zärtlichkeiten mochte, war sich aber nie ganz sicher. Wenn er versuchte, intimer zu werden, rückte sie eilig ihre Kleider zurecht und schob ihn weg. »Da kommt jemand«, flüsterte sie dann im menschenleeren Bushey Park. Oder: »Nein, Daniel – die arme Fay friert so.« Worauf er sie schuldbewußt und frustriert wieder in ihren Mantel hüllte, ihre kleinen eisigen Hände rieb und sich haßte.
    Er wünschte, er hätte ein Automobil, er wünschte, er hätte Geld. Wenn er ein Automobil hätte, hätten sie einen privaten, geschützten Ort. Wenn er Geld hätte, hätten sie in unbewohnte Gebiete fahren können, irgendwohin, wo Fay keine Angst vor dem plötzlichen Auftauchen von Fremden hatte und wo Daniel nur weite, offene Himmel gesehen hätte, die ihn nicht bedrückten.
    Doch er kam zurecht. Er sah sie so selten, so unregelmäßig, daß sie ihm vollkommen perfekt erschien. Wenn er je Ärger verspürte, gab er sich selbst die Schuld für seine Ungeduld, für seine Unfähigkeit, ein ordentliches Auskommen zu finden. Er fragte sich manchmal, was sie sagen würde, wenn er sie bäte, ihn zu heiraten. Aber das tat er nicht, weil er wußte, daß er ihr praktisch nichts zu bieten hatte. Er sah seine Arbeit, seine Wohnung, seinen Aufenthalt in London als vorübergehend an. Er hatte den Ehrgeiz verloren, der ihn vor dem Krieg angestachelt hatte, und es war ihm nicht gelungen, sich wieder ans Stadtleben zu gewöhnen. Er befürchtete, daß auch Fay etwas Vorübergehendes war, daß sie sich wegen seiner Ruhelosigkeit zurückhielt. Dennoch träumte er jede Nacht von ihr: heiße, verzweifelte Träume, die ihn am nächsten Tag müde und schlecht gelaunt zurückließen. Er versuchte, nach vorn zu sehen, schaffte es aber nicht: Die Lichtfunken im Dunkel schienen nur unstet zu flackern.
    Â»Verstehst du, Süße – es funktioniert nicht wirklich.«
    Sie saßen in einem kleinen Café, nicht weit vom Theater entfernt. Die weiße, zuckergußartige Kuppel von Sacré-Cœur strahlte am Horizont. Thomasines Gefühle schwankten seit zwei Monaten beständig zwischen

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