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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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vorsichtiger fuhr, und sah zum erstenmal die langen schmalen Narben, die sich von der Innenseite seiner Handgelenke zu den Armbeugen zogen.
    Â»Deine armen Arme«, sagte sie.
    Seine Lider zuckten, als er darauf hinabsah. »Das war die schlimmste Zeit. Ich wollte sterben.«
    Sie wußte, daß er die Wahrheit sagte. Sie dachte an Daniel, wie er in London von der Menschenmenge weggehumpelt war. Nur ein Kratzer bei Passchendaele .
    Â»Vom Krieg?« fragte sie.
    Er nickte. »An der Somme.« Darauf schwieg er eine Weile und fügte dann mit zitternder Stimme hinzu: »Aber das ist jetzt alles vorbei. Ich hab ja dich.«
    Plötzlich wallte große Zuneigung in ihr auf. Sie spürte, wie sehr er gelitten hatte. Aber wenn sie dieses Leid mildern könnte, dachte sie, könnte sie damit vielleicht ihre schreckliche Lüge wettmachen. Wenn sie all ihren Mut zusammennähme, brächte sie es dann über sich, ihm zu gestehen: »Ich bekomme ein Kind, Nicholas?«? Ob er ihr wohl vergeben könnte, ob er das Kind eines anderen Mannes wie sein eigenes aufziehen könnte?
    Natürlich nicht. Sofort verwarf sie den Gedanken wieder. Es war unmöglich, daß Nicholas Blythe, der sicherlich auf einen langen Stammbaum zurückblickte, einen Bastard als sein Kind annähme. Als seinen Erben womöglich. Dennoch mußte sie es ihm sagen – sie mußte es ihm heute sagen, bevor es zu spät war. Wenn sie haltmachten, wenn nicht fast jedes Wort im Motorlärm unterging, wenn sie sich besser fühlte, dann würde sie ihm von Clives Baby erzählen und die Folgen akzeptieren, gleichgültig, wie die auch aussehen mochten. Aber jetzt war sie einfach zu müde dazu, außerdem tat ihr der Rücken entsetzlich weh. Als sie im nächsten Dorf zum Essen anhielten, konnte sie nur mit Mühe aus dem Wagen steigen. Die Sonne brannte herunter, und Thomasine kramte in ihrem Koffer nach ihrem Hut.
    Â»Du siehst erschöpft aus«, sagte Nicholas besorgt, als er ihren Koffer wieder im Wagen verstaute.
    Â»Es war ein langer Tag. Wenn wir was gegessen haben, geht’s mir besser.«
    Aber sie konnte nichts essen und brachte keinen Bissen runter. Sie verteilte den Schinken und die Artischocken auf dem Teller, um den Eindruck zu erwecken, das Essen würde weniger. Im Schatten eines großen Walnußbaums leerten sie gemeinsam eine Flasche Rotwein. Der Wein betäubte die Rückenschmerzen und ihre Schuldgefühle, und das Rattern der Räder auf der holprigen Straße machte sie schläfrig. Jetzt, während des Fahrens, brauchte sie sich weder der Vergangenheit noch der Zukunft stellen. Wie eine unüberwindliche Hürde stand die Zukunft vor ihr, aber jetzt mußte sie sich nicht damit abgeben. Die vielen Entscheidungen, die sie bald treffen mußte, konnten für eine Weile warten.
    Sie war fast eingeschlafen, als sie es spürte: ein kleines Rinnsal von Blut zwischen ihren Beinen, wie bei ihren monatlichen Regelblutungen. Bloß daß die jetzt nicht eintreten sollten. Alice hatte ihr erklärt, wenn eine Frau ein Kind erwartete, bleibe die Periode aus.
    Nicholas fuhr schweigend dahin. Häuser, Felder, Flüsse flogen vorbei. Auf den Straßen herrschte kein Verkehr, und die Sonne stand noch immer hoch am Himmel. Thomasine spürte erneut die Nässe zwischen ihren Beinen, und diesmal war sie sicher. Ihr Rücken und der untere Teil ihres Bauchs schmerzten. Sie dachte: mein Kleid. Ich verderbe mir mein herrliches Fortuny-Kleid.
    Nicholas fragte: »Wie geht’s dir? Fühlst du dich schlecht?«
    Sie schaffte es, sich zusammenzunehmen. »Mir geht’s gut. Es ist nur, daß …« Sie spürte, wie sie rot wurde. »… Ich muß mir die Nase pudern.«
    Nicholas wurde ebenfalls rot. »Tut mir leid … ich hab nicht …« Er fuhr langsamer und sah sich aufgeregt um. Es gab nur Felder, Bäume und Bäche.
    Â»Kannst du bis zum nächsten Dorf warten?«
    Â»Ich glaube nicht. Halt einfach hier an, Nicholas. Da ist eine Hecke, hinter die ich gehen kann. Es ist ja niemand in der Nähe.«
    Thomasine stapfte durch ein Feld mit Sonnenblumen und hielt ihre Handtasche umklammert. Sie hätte über die Absurdität des Moments lachen können, aber als sie sich niederhockte und die Blutflecken auf ihrer Unterwäsche sah, war ihr nicht mehr nach Lachen zumute. Sie sehnte sich nach Alice, nach Tante Hilly. Nach jemandem,

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