Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Roman abgeschlossen hatte.
»Das ist wirklich untragbar!«, rief ich, nachdem ich einen Brief von Smith & Elder erhalten hatte, in dem sie mich über diese hinterhältigen Methoden unterrichteten. »Mr. Smith ist ganz aufgeregt, sehr misstrauisch und zornig! Er fragt mich, ob mir diese Vorgänge bekannt sind, ob ich etwa ohne sein Wissen meinen nächsten Roman Harper’s angeboten habe. Natürlich habe ich das nicht getan! Wie konnte Mr. Newby sich nur erdreisten, so etwas zu tun? Wie konnte er eine solche Lüge verbreiten?«
»Ich habe Mr. Newby wiederholt zu diesem Thema Briefe geschrieben«, sagte Anne sehr verärgert und ließ sich auf dem Schaukelstuhl im Esszimmer nieder, wo ich ihr die Nachrichtmitgeteilt hatte. »Ich habe immer wieder betont, dass die Werke der Bells von drei verschiedenen Autoren stammen.«
»Und doch hat Mr. Newby an Harper’s geschrieben«, rief ich ungläubig, »und bestätigt, dass nach bestem Wissen und Gewissen
Jane Eyre, Sturmhöhe, Agnes Grey
und
Die Herrin von Wildfell Hall
alle aus derselben Feder stammen!«
»Er möchte das Publikum und den Buchhandel glauben machen, dass er Currer Bell unter Vertrag hat«, sagte Emily angewidert. »Er versucht, Smith & Elder zu hintergehen, indem er sich das Angebot des amerikanischen Verlags zu sichern versucht. Du hattest recht, Charlotte. Er ist ein verachtenswerter Mann! Es tut mir leid, dass ich ihm mein Buch anvertraut habe.«
»Und jetzt stellen Smith & Elder meine Loyalität und Ehrlichkeit und gar meine Identität in Frage«, sagte ich und ging wütend vor dem Kamin auf und ab. »Wir müssen sofort etwas unternehmen, um meinem Verleger zu beweisen, dass wir drei verschiedene Personen sind, und wir müssen Mr. Newby mit seiner Lüge konfrontieren.«
»Wie?«, fragte Anne.
»Es gibt nur eine Möglichkeit. Sie müssen uns von Angesicht zu Angesicht sehen. Wir müssen unverzüglich nach London fahren – alle drei!«
»Nach London!«, rief Anne aus.
»Wenn wir selbst hinreisen«, sagte Emily, »dann sind alle unsere Bemühungen um Anonymität verloren. Dann finden die Leute heraus, dass wir drei Frauen sind.«
»Und ist es eine Schande, die Wahrheit aufzudecken?«, erwiderte ich hitzig. »Unsere Bücher sind bereits erschienen und längst besprochen worden. Dann soll doch die breite Öffentlichkeit erfahren, dass wir dem edleren Geschlecht angehören!«
»Nein!«, rief Emily. »Das kann ich nicht zulassen. Ich hättemich niemals einverstanden erklärt, dass mein Buch veröffentlicht wird, wenn ich gedacht hätte, dass ich meine Privatsphäre aufgeben muss.«
»Dann sagen wir es nur unseren Verlegern«, gestand ich ihr zu, »und sorgen dafür, dass sie niemandem sonst unser Geheimnis enthüllen. Geht das?«
Emily seufzte. »Wenn ihr unbedingt nach London fahren müsst, dann fahrt – aber ich will nichts damit zu tun haben. Es geht hier um dein Buch, Anne, und um deinen Namen, Charlotte. Als zwei Autorinnen könnte ihr eure Sache genauso gut beweisen wie als drei. Ellis Bell ist jedenfalls weiterhin ein Mann, und
er
bleibt zu Hause!«
Der Ausflug nach London wurde ein sehr spannendes Abenteuer. Es war Annes erster Besuch in London (sie war noch nie in ihrem Leben aus Yorkshire herausgekommen), und mein zweiter. Ich hatte auf der Reise nach Belgien damals vor sechs Jahren drei aufregende Tage lang mit Papa und Emily die berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Stadt in Augenschein genommen, mir aber vor meiner letzten Überfahrt zum Kontinent keinen Aufenthalt in London gegönnt.
Anne und ich packten sofort einen kleinen Koffer und schickten ihn nach Keighley, unterrichteten Papa über unsere Pläne und machten uns noch am gleichen Nachmittag nach dem Tee mutig auf den Weg. Es war der 7. Juli. Wir gingen durch ein Gewitter zum Bahnhof, erreichten Leeds und fuhren in Windeseile mit dem Nachtzug nach London weiter. Dort trafen wir nach einer schlaflosen Nacht um acht Uhr morgens im »Chapter Coffee House« in der Paternoster Row ein, wo ich schon einmal übernachtet hatte. Wir wuschen uns, nahmen ein Frühstück zu uns und machten uns voller innerer Aufregung auf, um Cornhill Nr. 65 zu finden.
Für Anne, deren Gesundheit das ganze Jahr hindurch angegriffen gewesen war, hatte sich die lange Reise und der Fußmarsch durch die Stadt als gleichermaßen aufregend und anstrengend erwiesen. Ich fand, dass sie bei unserer Ankunft außerordentlich blass wirkte, obwohl sie behauptete, sich bestens zu fühlen. Es stellte sich heraus, dass
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