Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
herangereift ist.«
»Wie lange? Wie lange ist er schon herangereift?«
»Er hat mir gesagt, dass er mich bereits viele Jahre liebt, es aber nicht gewagt hat, sich zu erklären.«
Papa stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, wo er die Zeitung und das Vergrößerungsglas mit solcher Wut hinschmetterte, dass es ein Wunder war, dass das Glas nicht in tausend Stücke zersplitterte. Flossy, der bei Papas Ausbruch erschreckt aufgewacht war, tapste ängstlich aus dem Zimmer. »Viele Jahre? Der undankbare Schuft! Der Dreckskerl! Hat die ganze Zeit unter uns gelebt und Seite an Seite mit mir gearbeitet – und ich habe ihn immer für so eifrig, so aufrecht und der Gemeinde so verpflichtet gehalten –, und die ganze Zeit über hat er hinter meinem Rücken Pläne geschmiedet, wie er mir meine einzige noch lebende Tochter stehlen kann!«
Ich war fassungslos und gekränkt, dass Papa so über Mr. Nicholls sprach. »Papa, das ist nicht wahr. Es war kein Plan. Wenn Mr. Nicholls Gefühle für mich hegt, dann mindern sie doch die Arbeit, die er für dich und für die Gemeinde getan hat, nicht im geringsten.«
»Widersprich mir nicht, Mädchen!« Papa fuhr zu mir herum, und seine Augen blitzten hinter den Brillengläsern hervor und sprühten vor zunehmender Wut und Erregung, die ich für völlig überzogen hielt. »Der Mann ist ein gerissener, hinterlistiger Lügner. Dass er in all den Stunden und Wochen und Jahren, die ich in seiner Gesellschaft verbracht habe, niemals ein Sterbenswörtchen zu mir gesagt hat – nicht einmal eine Andeutung gemacht hat! Jahrelang hat er seine Ziele vor uns beiden verborgen gehalten!«
»Wenn das so ist, Papa, dann denke ich nicht, dass er es aus Hinterlist oder Gerissenheit getan hat, sondern weil er genau diese Reaktion von dir befürchtete und weil er Angst hatte, ich könnte ihn ablehnen.«
»Und ablehnen musst du ihn mit unmissverständlichen Worten. Ich will nichts von dieser Verbindung wissen, nicht in einer Million Jahren, das lass dir gesagt sein! Dieser Mann hat nichts. Nichts! Jämmerliche neunzig Pfund im Jahr, keine Hoffnung, dass es je auch nur ein Penny mehr werden könnte, und kein eigenes Haus. Wo will er denn seine Ehefrau unterbringen? In dem Zimmer, das er sich im Haus des Küsters angemietet hat?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich nehme an, es stimmt, dass Mr. Nicholls nicht sehr viel Geld hat, Papa – aber sollte es bei meiner Entscheidung nicht um meine Gefühle für den Mann und nicht um die Höhe seines Einkommens gehen?«
»Die Höhe des Einkommens sagt sehr viel über den Mannaus, Charlotte. Ihn zu heiraten wäre ein Abstieg! Er ist offensichtlich nur auf dein Geld aus.«
»Mein Geld?«, rief ich entgeistert. »Mein
Geld
? Ist es für dich so unvorstellbar, Papa, dass mich ein Mann um meinetwillen lieben könnte?«
»Natürlich nicht!«
»Du willst einfach nicht, dass mich irgendjemand als seine mögliche Ehefrau betrachtet!«
»Stell meine Geduld nicht auf die Probe! Du bist eine großartige, erfolgreiche Frau, Charlotte – eine gefeierte Schriftstellerin. Wenn du heiraten willst, solltest du eine gute Partie machen. Wenn du James Taylor dein Jawort gegeben hättest, wäre ich stolz gewesen.«
»Warum? Weil Mr. Taylor bald darauf das Land verlassen hätte und mich gebeten hat, auf ihn zu warten? Das war eine sichere Sache, nicht wahr, Papa? Ich wäre mindestens noch fünf Jahre hier geblieben, sodass ich dir weiter den Haushalt hätte führen können.«
»Damit hat es nichts zu tun!«
»Ach wirklich? Wovor fürchtest du dich, Papa? Glaubst du allen Ernstes, dass ich, sobald ich heirate, fortgehen und dich hier allein lassen und einsam sterben lassen würde? Ich habe dir versprochen, dass ich das nicht tun werde, und dieses Versprechen werde ich gewiss nicht brechen. Mr. Nicholls lebt hier; wenn ich ihn heirate, würde ich nirgendwohin gehen!«
»Dass du überhaupt nur daran denkst, so tief zu sinken, das gewöhnliche Schicksal einer durchschnittlichen Pfarrerstochter zu teilen, den Hilfspfarrer des Vaters zu heiraten! Noch dazu einen so niedrigen, undankbaren und verlogenen Schurken wie diesen! Es ist unvorstellbar! Du würdest dich wegwerfen!«
Heftiger Unmut über seine Ungerechtigkeit wallte in mirauf. Doch Papa war so in Wut geraten, dass sein Zustand schon besorgniserregend war: Die Adern an seinen Schläfen traten hervor, und seine Augen waren plötzlich blutunterlaufen. Die gleichen Anzeichen waren seinem
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