Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
gefährlichen Schlaganfall etwas früher im Jahr vorausgegangen. Der Arzt hatte mich gewarnt, außerordentliche Aufregung könnte zu einem weiteren Anfall führen, der ihn außerordentlich schwächen, wenn nicht gar seinen Tod bedeuten könnte.
»Papa, bitte beruhige dich«, sagte ich hastig, und mein Zorn war angesichts meiner plötzlichen Besorgnis verraucht.
»Ich beruhige mich erst, wenn du mir dein Wort gibst, dass du seinen Antrag ablehnen wirst!«
Ich zögerte und sagte dann mit einem verwirrten Nicken: »Ich schreibe ihm gleich morgen früh.«
Liebes Tagebuch, ich hatte schon vorher viele Nächte schlaflos verbracht, aber die Stunden der Dunkelheit nach Mr. Nicholls’ Antrag waren die längsten und quälendsten von allen. Ich war verwundert und zutiefst gerührt darüber, wie er vor mir seine Gefühle ausgebreitet und mir eingestanden hatte, welche Qualen er gelitten hatte. Der Gedanke, dass ich ihm weiteres Leid verursachen würde, schmerzte mich sehr. Wäre ich in Mr. Nicholls verliebt gewesen, so hätten mich weder der heftige Widerstand meines Vaters gegen diese Verbindung noch meine Angst um seine Gesundheit davon abgehalten, seinen Antrag auf der Stelle anzunehmen. Aber ich liebte Mr. Nicholls nicht – zumindest damals liebte ich ihn nicht –, noch hatte ich bis zu diesem Augenblick je einen Gedanken auf eine Verbindung mit ihm verwandt. Ich mochte ihn sehr gern, ich war mir seines Wertes bewusst, aber ich wusste zudem, dass es große Unterschiede zwischen uns gab, nicht nur in der Stärke unserer Gefühle, sondern auch in grundlegendenreligiösen Einstellungen und Prinzipien, die mir sehr am Herzen lagen.
Während ich mich unruhig hin und her warf, bemerkte ich plötzlich, dass ich zwar Mr. Nicholls im Laufe der letzten Jahre besser kennengelernt hatte, aber immer noch nicht sonderlich viel über ihn wusste. Obwohl er jeden Herbst nach Irland reiste, um seine Familie zu besuchen, hatte er nie von ihr gesprochen, außer dass er mir vom Tod seiner Schwester erzählt hatte. Er hatte nie über sein Leben vor seiner Ankunft in Haworth geredet, und ich hatte mich auch nie danach erkundigt. Wie seltsam es doch war, dachte ich, dass man beinahe acht Jahre Tür an Tür mit jemandem wohnte und ihn fast jeden Tag sah und doch so wenig über ihn wusste!
Was ich jedoch wusste, überzeugte mich davon, dass Mr. Nicholls ein Mann der Tat war. Er widmete sich ganz und gar dem gegenwärtigen Augenblick, während ich oft mit meinen Gedanken meilenweit der Wirklichkeit entrückt war. Würde sich Mr. Nicholls tatsächlich ein Leben lang damit abfinden können? Ich fürchtete, das würde nicht der Fall sein. Ich durfte eine so unauflösliche Verbindung wie eine Ehe nicht eingehen, wenn dies nicht auf der Grundlage einer ebenso festen gegenseitigen Zuneigung geschah. Und ich bezweifelte, dass ich Mr. Nicholls’ Zuneigung jemals mit der Leidenschaft erwidern könnte, die er mir entgegenbrachte.
Ein Teil von mir wünschte, ich könnte die Sache noch weiter bedenken, mir würde die Zeit gewährt, eine echte Brautwerbung zu erleben, um herauszufinden, ob Mr. Nicholls und ich nicht doch zusammenpassten, trotz unserer vielen Unterschiede. Papas vehemente Ablehnung dieser Verbindung machte das jedoch unmöglich. Es erzürnte mich sehr, dass Papa Mr. Nicholls so beschimpft und mit derart ungerechten Anschuldigungen beleidigt hatte. Es missfiel mir sehr, dasses, wenn ich nun Mr. Nicholls einen Korb gab, so aussehen würde, als hätte ich mich blind dem Diktat meines Vaters gebeugt. Aber ablehnen musste ich den Antrag.
Ich schrieb mindestens sechs Entwürfe meines Briefes an Mr. Nicholls und zerriss sie alle, ehe ich mich für das folgende kurze Schreiben entschied, das ich am nächsten Morgen von Martha zu ihm tragen ließ:
14. Dezember 1852
Sehr geehrter Herr,
bitte seien Sie versichert, dass ich Sie in größter Hochachtung halte und dass ich mir der besonderen Ehre bewusst bin, die Sie mir mit der Erklärung erwiesen haben, die Sie mir gestern machten. Nachdem ich die Angelegenheit gründlich überdacht habe, muss ich jedoch mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns Ihren Antrag ablehnen. Ich schätze Sie außerordentlich als einen Freund, Mr. Nicholls, und ich hoffe, dass diese Freundschaft fortbestehen kann.
Ich versichere Ihnen, ich bin stets Ihre ergebene
Charlotte Brontë
Bereits innerhalb einer Stunde erhielt ich die folgende Antwort:
Meine liebe Miss Brontë,
ich bin tief, zutiefst betrübt.
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