Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
das wild pochende Herz und das leidenschaftliche Aufeinandertreffen der Lippen? Wenn mich Mr. Nicholls anschaut, wenn er meine Hand berührt, empfinde ich nicht die Erregung, die ich meiner Meinung nach beim Anblick und der Berührung meines Liebsten empfinden sollte.
Und doch habe ich wirklich eine echte Wertschätzung und Zuneigung zu Mr. Nicholls entwickelt. Er ist ein lieber Mann.Nach allem, was ich während seines zehntägigen Besuchs erfahren habe, sind viele meiner Zweifel daran, ob wir zusammenpassen könnten, gemildert. Es bedeutet mir auch sehr viel, dass er meinen Bruder kannte und meine Schwestern sehr gern hatte und dass er versprochen hat, mir bei der Pflege meines alternden Vaters zu helfen. Ist es nicht besser, sich der Anhänglichkeit eines solchen Mannes zu versichern und ein leidendes und treues Herz zu erlösen, als einen Menschen, der so wahrhaft an einem hängt, schnöde zu verlassen, um einem eitlen, leeren Schemen nachzujagen?
Ich bin für Mr. Nicholls’ zärtliche Liebe zu mir sehr dankbar. Ich halte es für möglich, dass ich mit der Zeit lernen werden, ihn meinerseits zu lieben.
Die Vorsehung in ihrer Güte und Weisheit hat mir dieses Schicksal angeboten; dann muss es wohl das Beste für mich sein.
EINUNDZWANZIG
Liebes Tagesbuch, inzwischen sind seit meiner letzten Eintragung viele Monate vergangen. Vergib mir diese Saumseligkeit, doch in der Zwischenzeit ist so viel geschehen, dass ich kaum einen Augenblick zum Atemschöpfen hatte.
Es stellte sich heraus, dass die
Entscheidung,
Mr. Nicholls’ Antrag anzunehmen, nur die halbe Schlacht – oder sollte ich vielleicht besser Reise sagen? – war, die vor mir lag. Denn obwohl mein Verstand sich entschlossen hatte, würde ich wohl nicht dauerhaft glücklich sein, ehe nicht auch mein Herz und meine Seele gewonnen wären. Und das – nun, das ist der Rest der Geschichte. Meine Erzählung wäre nicht vollständig, wenn ich nicht weiter berichten würde, was danach geschah – obwohl bestimmte Teile dieser Geschichte von einer so persönlichen und intimen Natur sind, dass ich selbst jetzt noch erröte, wenn ich nur daran denke.
Volle zwei Monate, nachdem Mr. Nicholls und ich jenen letzten Spaziergang im Schnee gemacht hatten und ich mich entschlossen hatte, seinen Antrag anzunehmen, konzentrierte ich all meine Bemühungen darauf, Papa von den vielen Vorzügen meines Verehrers zu überzeugen. Ich erinnerte ihn an die getreuen Dienste, die Mr. Nicholls ihm während seiner acht Jahre im Amt des Hilfspfarrers geleistet hatte, und verglich seine Handlungen mit denen seines Nachfolgers, des allseits verachteten Mr. de Renzy. Ich erzählte ihm, dass Mr. Nicholls’ Onkel Lehrer gewesen war; das hatte doch sicher zu bedeuten, dass einige seiner Familienmitglieder gebildet waren und Papas Verachtung nicht verdienten. Ich sagte Papa, dass er, wenn erMr. Nicholls wieder als Hilfspfarrer einstellte und uns seinen Segen zu unserer Heirat gäbe und uns erlaubte, bei ihm im Pfarrhaus zu wohnen, einen Schwiegersohn gewinnen würde, dessen zusätzliches Einkommen für uns alle ebenfalls von Vorteil wäre.
Vielleicht war es diese letzte, finanzielle Erwägung, die schließlich die gewünschte Wirkung zeitigte; vielleicht war es die Tatsache, dass Mr. de Renzy Papas Nerven so überstrapaziert hatte, dass er nun jeden Ersatz sehr willkommen hieß. Vielleicht war er auch einfach erschöpft, weil er sich meine Argumente Tag und Nacht hatte anhören müssen. Aus welchem Grund auch immer, jedenfalls geschah ein Wunder. Papa gab seinen Segen zu unserer Heirat.
Als Mr. Nicholls am 4. April nach Haworth zurückkehrte, war Papas frühere Abneigung gegen ihn so gründlich und vollständig verschwunden wie der gerade geschmolzene Schnee. Am zweiten Tag seines Besuchs bestand Mr. Nicholls, der mit nervöser Anspannung auf die neue Höflichkeit von Seiten meines Vaters reagierte, darauf, dass wir über das Moor zu dem Bachufer spazierten, an dem wir vor nun beinahe sechs Jahren zum ersten Mal zusammengesessen und so freundlich miteinander geplaudert hatten.
Obwohl es schon Frühlingsanfang war, war es doch sehr kalt, und in den Mulden entlang des moosbedeckten Bachufers lag noch hier und da Schnee. Es waren noch keine Blumen gesprossen, aber der Bach strömte und sprudelte kräftig wie immer, und auf den Bäumen schimmerte bereits die Vorahnung frischer neuer Blätter. Als wir den vertrauten Ort erreichten, an dem wir einst in der Geborgenheit der umgebenden
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