Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
wie sehr sie sich auch von der Ihren unterscheidet?«
»Natürlich.«
»Wären Sie einverstanden, gelegentlich einfach meinen Standpunkt anzuhören und zu bedenken?«
Er lachte. »Ja, das verspreche ich.«
An unserem letzten gemeinsamen Tag kehrten wir vom gleichen Spaziergang durch den Schnee zurück und verabschiedeten uns gerade am Gartentor des Pfarrhauses, als Mr. Nicholls mir ein weiteres Versprechen gab, das uns zu einem noch engeren Verständnis miteinander brachte.
»Ich weiß, Miss Brontë, wie sehr Sie Ihren Vater lieben und wie besorgt Sie um sein Wohlbefinden sind. Ebenso weiß ich, dass Sie ihn niemals verlassen würden, und in diesem Punkt möchte ich Sie beruhigen. Meine gegenwärtige Anstellung als Hilfspfarrer ist nur befristet. Ich habe mich nicht um eine volle Pfarrstelle an einem anderen Ort beworben, und ich habe diejenigen, die man mir bisher angeboten hat, abgelehnt, weil ich fürchtete, Sie würden mir nicht dorthin folgen. Gehe ich recht in dieser Annahme?«
»Ja, da gehen Sie recht, Sir«, flüsterte ich überrascht und sehr gerührt.
»Ich wollte Ihnen versichern, dass ich, falls wir heiraten sollten, Miss Brontë, für immer nach Haworth zurückkehren würde. Und ich gelobe, alles in meinen Kräften Stehende zu tun, um mich bis zum Ende seiner Tage getreulich um Ihren Vater zu kümmern.«
Ich spürte, wie mich eine Welle der Zuneigung zu ihm überkam. »Vielen Dank, Mr. Nicholls. Ich bin mir darüber im Klaren, dass eine solche Zusicherung Ihnen nicht leichtfallen kann, besonders angesichts der ungerechten Behandlung, dieIhnen Papa hat angedeihen lassen. Es spricht sehr für Ihre Aufrichtigkeit und Nachsicht. Ich bin mir ebenso darüber im Klaren, dass dies nicht einfach leere Worte sind, sondern dass Sie ihnen auch Taten folgen lassen würden, und das nimmt mir eine schwere Last von der Seele.«
Er runzelte die Stirn. »Damit all dies jedoch geschehen kann – dass ich für immer nach Haworth zurückkehre – muss Ihr Vater bereit sein, mich nicht nur als möglichen zukünftigen Schwiegersohn zu akzeptieren, sondern auch wieder als seinen Hilfspfarrer.«
Ich nickte. »Er ist, wie Sie wissen, ein sehr starrköpfiger alter Mann. Wenn er sich einmal eine Meinung gebildet hat, ist es sehr schwer, ihn dazu zu bringen, einen anderen Standpunkt einzunehmen.« Ich schaute ihn dann mit einem verwunderten Lächeln an. »Mr. Nicholls, haben Sie wirklich meinetwegen eine einträglichere Anstellung abgelehnt?«
»Mehrere, Miss Brontë, und ich werde das auch weiterhin tun, wenn Sie mir nur ein wenig Hoffnung machen, dass Sie meinen Antrag noch einmal überdenken würden.«
»Ich überdenke ihn gerade, Sir. Und ich versichere Ihnen, dass ich ihn jetzt aus einem völlig anderen Blickwinkel sehe.«
Ein Funken von vorsichtigem Optimismus flackerte in seinen Augen auf. »Dann hoffe ich auf das Beste.«
Ich zog meine behandschuhte Hand aus dem Muff und streckte sie ihm hin. Er ergriff sie und hielt sie fest zwischen seinen beiden Händen.
»Danke für Ihren Besuch, Sir. Ich werde Ihnen sehr bald wieder schreiben.«
»Und ich komme wieder, sobald ich nur kann.« So standen wir einige Augenblicke da und schauten einander in die Augen. Mit offensichtlichem Zögern ließ er meine Hand wieder los, und wir sagten einander Lebewohl.
ZWANZIG
Liebes Tagebuch, als ich vor einem Jahr begann, diese Seiten zu schreiben, war mein Leben gerade in einen Strudel von Aufruhr und Verwirrung geraten, den Mr. Nicholls’ unerwarteter Heiratsantrag ausgelöst hatte. In den vergangenen zwölf Monaten habe ich den Trost der Erinnerung gesucht und mich mit Hilfe meiner Schreibfeder bemüht, meine Vergangenheit zu verstehen, in der Hoffnung, dies möge mir helfen, sicher in die Zukunft zu gelangen.
Nun stelle ich fest, dass ich meine Entscheidung nicht mehr länger hinausschieben darf. Meine innere Stimme ist nicht zum Schweigen zu bringen. Sie ruft: »Könnte ich überhaupt eine Ehefrau sein?« Wichtiger noch: »Könnte ich
seine
Ehefrau sein – für alle Zeiten?«
Die Hitze steigt mir in die Wangen, während ich diese Zeilen schreibe. Ich schäme mich, es zuzugeben, liebes Tagebuch, aber ich bin enttäuscht, dass ich nicht die Leidenschaft für Mr. Nicholls empfinde, wie ich sie mir immer zwischen einer Heldin und ihrem Helden vorgestellt habe. Wo ist die angespannte Erwartung der nächsten so kostbaren Begegnung, wo ist der angehaltene Atem, wenn man einander in die Arme fliegt, sobald man sich erblickt, wo
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