Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
schon?«, fragte Hannah. »Wie hieß er noch mal?«
»Durin. Eigentlich kannte ich ihn nicht wirklich. Ich hoffe nur, dass dieser Roosevelt, wer immer das auch ist, mir einige Antworten geben kann.«
»Alles wird gut, Avi.« Hannahs Lächeln war strahlender als die Sonne. »Ich habe den Beweis dafür gesehen!«
Avi war froh, sie so glücklich zu erleben, und traurig, ihre Freude nicht teilen zu können. Seine ganze Zukunft hing an einem Mann, dem er noch nie begegnet war, und er fühlte sich schrecklich ausgeliefert. Noch schlimmer war, dass er sich trotz Hannahs Gegenwart unglaublich einsam vorkam.
Der Bus erreichte eine breite, geschäftige Straße, die einfach nur Strand hieß. Als Avi den Namen las, machte sein Herz einen Satz. Hier befand sich laut Hannah das Savoy Hotel, wo er Roosevelt finden würde.
Bei diesem Gedanken sprang er auf.
»Warte!«, rief Hannah, als er aus dem Bus stieg und schnell wie der Blitz davonhastete.
»Das kann ich mir nicht leisten«, entgegnete Avi.
Der Hoteleingang lag ein Stück von der Straße zurückversetzt, so dass Avi sich fühlte, als träte er in ein gewaltiges Maul. In der Auffahrt parkten teuer wirkende Autos. Über der Tür hing ein poliertes Metallschild, das nur die Aufschrift SAVOY trug.
»Woher wissen die Leute, was das hier sein soll?«, wunderte sich Avi. »Es steht ja nicht einmal Hotel drauf.«
»Jeder kennt das Savoy«, erwiderte Hannah.
»Jeder außer mir.«
Als sie durch die Drehtür schritten, beäugte der Bedienstete vor dem Eingang sie argwöhnisch. »Tu einfach ganz lässig«, flüsterte Hannah. Doch sobald sie im Gebäude standen, konnten sie ihre Ehrfurcht nicht mehr verhehlen.
Marmorne Säulen reichten hinauf zu einer kunstvoll verzierten Decke, von der kristallene Kronleuchter hingen wie Körbe aus Eis. Einige Wände bestanden ebenfalls aus Marmor, andere waren mit einem schimmernden Holz getäfelt. Nur ein Streifen direkt unterhalb der Decke war ausgespart und wurde von einem prächtigen Fries verziert. Es stellte in Gewänder gehüllte Gestalten dar, die in einer Waldlandschaft umhertollten.
»Sie sehen aus wie Titania und Oberon«, meinte Hannah.
»Wer?«
»Die Feenkönigin und der König aus Ein Sommernachtstraum. Das nehmen wir gerade im College durch. Eigentlich bevorzugt mein Dozent Tragödien, aber er ist auch eher der tragische Typ.«
Die Frau an der Rezeption war sogar noch misstrauischer als der Mann am Eingang. Sie musterte die beiden von Kopf bis Fuß, bis ihr Blick an Hannahs zu kurzem Rock und Avis zu langem Mantel hängenblieb. Avi war überzeugt, dass sie sie wegschicken würde. Doch als sie ihr mitteilten, sie wollten einen Mr. Roosevelt sprechen, bearbeitete sie ihre Tastatur.
»Wir haben tatsächlich einen Gentleman dieses Namens hier«, verkündete sie in militärischem Tonfall. »In der Präsidentensuite. Allerdings empfängt er keinen Besuch.«
Avi erinnerte sich, wie er Jane Easter um den Finger gewickelt hatte. Vielleicht würde es diesmal ja auch klappen.
»Ich weiß«, meinte er. »Mit diesem Trick versucht er es immer. Ein wirklich komischer Kauz, mein Onkel.«
Das Lächeln der Empfangsdame war so schmallippig wie das von Avi breit. »Falls er wirklich dein Onkel ist«, entgegnete sie, »ist dir sicher bekannt, dass Mr. Roosevelt meint, was er sagt.«
»Könnten Sie nicht in seinem Zimmer anrufen?«, schlug Avi vor. »Wenn er erfährt, dass ich hier bin, kommt er sicher herunter.«
»Mr. Roosevelt kommt niemals herunter.« Als sie mit dem Finger schnippte, steuerte ein Page auf sie zu. »Am besten sucht ihr anderswo weiter.«
Avi wollte noch einen Anlauf unternehmen, doch Hannah zupfte ihn am Ärmel.
»Zeit zu gehen«, flüsterte sie.
»Aber ich muss ihn sehen.« Avi war völlig verzweifelt.
»Es gibt immer Mittel und Wege.«
Der Page grinste. Es war kein freundliches Grinsen, weshalb sie sich eilig verdrückten.
»Was für Mittel und Wege?«, fragte Avi auf dem Weg nach draußen.
»Was im Krankenhaus geklappt hat, könnte hier ebenfalls klappen.«
»Die Hintertür?«
»Genau.«
Hinter dem Hotel befand sich ein Gewirr aus Höfen und Seitengassen. Die ersten drei Türen waren verschlossen, doch die dritte erwies sich nicht nur als offen, sondern wurde sogar von einem eingeklemmten Wäschekorb aufgehalten. Als sie um die Ecke spähten, entdeckten sie zwei Zimmermädchen, die hinter einigen Müllbehältern eine Zigarette rauchten.
»Ich habe eine Idee«, sagte Hannah. »Während ich die beiden
Weitere Kostenlose Bücher