Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Schlag.
»Wir müssen jemanden rufen«, sagte sie und wollte aufstehen.
»Nein«, widersprach Avi. »Schau.«
Am Fußende bewegte sich die Bettdecke über den Füßen ihrer Mutter, und Mrs. Bower hob die Knie an. Und da war noch ein anderes neues Geräusch. Es war zwar leise, übertönte jedoch mühelos das Piepsen der Maschine: ein rauhes Atmen aus trockener Kehle.
Avis Blick wanderte nach oben. Die Augenlider der Frau flatterten, als habe eine Brise sie angerührt. Langsam öffnete sie die Augen.
»Meine Lippen sind so trocken«, murmelte Frieda. »Hast du noch etwas von dem Erdbeer-Lipgloss da, Liebes?«
Schniefend kramte Hannah in der Tasche ihrer Lederjacke und förderte ein kleines rosafarbenes Döschen zutage. Sie klappte es auf, tauchte den Finger hinein und strich ihrer Mutter das Lipgloss auf die Lippen. Ihre Hand zitterte so sehr, dass der Großteil auf Mrs. Bowers Kinn landete. Frieda begann zu kichern, und bald kicherte Hannah auch.
Avi lehnte sich zurück. Sein Gesicht fühlte sich merkwürdig an, und er stellte fest, dass er lächelte.
Hannah räumte das Lipgloss weg und hielt die Hand ihrer Mutter. Die beiden redeten wild durcheinander, unzusammenhängende Dinge, die sie erneut zum Lachen brachten. Schließlich kletterte Hannah aufs Bett und umarmte ihre Mutter unter Tränen. »Danke, danke«, schluchzte sie, an niemanden im Besonderen gewandt, außer vielleicht an die unsichtbaren Mächte, die dafür sorgen, dass die Welt sich dreht und dass es stürmt, und die sich hin und wieder auch einer Springflut in den Weg stellen.
Als Avi aus dem Zimmer schlüpfte, schienen weder Hannah noch ihre Mutter es zu bemerken. Er setzte sich auf einen Stuhl auf dem Flur und versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war.
Deine Mutter wird bald sterben, hatte Dr. Easter gesagt. Offenbar war das ein Irrtum.
Oder vielleicht doch? Hatte sie das Bewusstsein nur vorübergehend wiedererlangt? Hatte etwas in Frieda Bower die Gegenwart ihrer Tochter erspürt und darauf reagiert, indem es dem todgeweihten Körper noch ein letztes Mal Lebenskraft einhauchte? Kauerte Hannah in diesem Moment womöglich neben ihrer toten Mutter?
Aber Avi glaubte das nicht. Er wusste nicht, was er da gerade beobachtet hatte – eine Fehldiagnose oder ein Wunder. Doch eines stand jedenfalls fest: Frieda Bower würde gesund werden.
»Das kannst du nicht wissen«, flüsterte er.
Und dennoch wusste er es auf wundersame Weise.
Die Tür von Friedas Zimmer öffnete sich. Hannah kam heraus und wischte sich die Augen ab. Avi wollte aufstehen, um sie zu trösten, aber sie kam auf ihn zugelaufen, umarmte ihn lächelnd und sagte: »Ist es nicht wundervoll?«
»Ich hoffe es für dich«, entgegnete er und erwiderte verlegen ihre Umarmung.
Dr. Easter machte ein zweifelndes Gesicht und bat sie, draußen zu warten, während sie Frieda untersuchte. Nach zehn Minuten kehrte sie mit verdatterter Miene zurück.
»Damit hätte ich niemals gerechnet«, verkündete sie.
»Sie wird wieder gesund, oder?«, fragte Hannah.
Dr. Easter wartete, bis einige Krankenschwestern vorbeigegangen waren. »Mein Kind, ich fürchte, es ist zu früh, um übereilte Schlussfolgerungen zu ziehen. Obwohl wir uns sehr freuen, dass der Zustand deiner Mutter sich gebessert hat, ist sie noch immer in sehr schlechter Verfassung.«
»Diesen Eindruck hatte ich aber nicht«, protestierte Hannah. »Sie war nur müde.«
»Das auch«, stimmte Dr. Easter mit einem Seitenblick zu. Weitere Personen kamen den Flur entlang. »Zuerst setzen wir eine neue Magnetresonanzuntersuchung an. Vielleicht haben wir uns mit unserer Diagnose auch geirrt. Das heißt aber nicht, dass nicht noch etwas anderes im Argen liegen könnte. Also untersuchen wir weiter. Die Ergebnisse müssten morgen vorliegen. Dann kann ich dir mehr sagen.«
»Sie wird gesund«, beharrte Hannah. »Ich weiß es.«
»Nun, momentan wissen wir noch gar nichts. Wir wollen nichts überstürzen.«
Hannah atmete tief durch. »Aber es gibt doch Leute, die sich auf wundersame Weise wieder erholen, oder? Das liest man ständig in der Zeitung.«
Dr. Easter setzte sich erschöpft und fuchtelte mit den Händen, als wolle sie nach etwas greifen, das sie nicht sehen konnte. »Ich bin jetzt seit fast dreißig Jahren Ärztin, und dennoch überrascht mich der menschliche Körper an jedem Arbeitstag von neuem. Wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass man die Hoffnung nie aufgeben soll.«
Hannah legte Avi die Hände auf die
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