Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
ich mit dir machen, Doktor? Seit Generationen beobachte ich die Welt der Menschen. Ich habe Helden und Schurken gesehen. Ich habe ganze Familien und auch Einzelpersonen genau unter die Lupe genommen und ihre Stammbäume über viele Jahrhunderte verfolgt. Ich verstehe die Menschen, ich weiß, was sie antreibt, was sie motiviert. Ich weiß, wie und warum sie lieben und was sie fürchten. Aber du … du bist ein Buch mit sieben Siegeln für mich.«
Dee warf einen kurzen Blick auf Marethyu. »Ist das gut oder schlecht?«
Abraham trat an den Rand der Plattform und schaute hinaus über die weit unter ihnen liegende Stadt. »Du hast keine Ahnung, wie kurz davor wir standen, dich zu vernichten«, fuhr er fort. »Kronos bot an, Marethyu durch die Zeit zurückzuschicken und deine frühesten Vorfahren umzubringen, damit wir deine gesamte Sippe auslöschen könnten.«
Dee nickte Marethyu zu. »Ich bin froh, dass du es nicht getan hast.«
»Mir brauchst du nicht zu danken. Ich wollte es machen.«
Als Schritte auf der Treppe erklangen, drehte Dee sich um. Eine schöne junge Frau mit grauen Augen trat auf die Plattform. Sie ignorierte Dee, nickte Marethyu zu und lächelte dann Abraham an. Erst nach einer Weile wandte sie sich an Dee und blickte ihn finster an. »Ich hätte es auch getan.«
»Darf ich vorstellen: Tsagaglalal, meine Frau.«
Dee verbeugte sich leicht. »Es ist mir eine Ehre.«
»Keine Ursache«, fauchte sie. »Ich würde dich mit dem größten Vergnügen von dieser Plattform stoßen.« Sie führte ihren Gatten vom Rand weg und stellte sich dann vor ihn, damit er sie anschauen konnte. »Bald ist es so weit.«
»Ich weiß. Geh nach unten. Mach dich bereit. Mit dem Doktor bin ich fast fertig.«
Tsagaglalal rauschte an Dee vorbei und verschwand wieder.
»Sie wird dich noch Jahrtausende hassen.« Abraham streckte die Hand aus. »Gib mir mein Buch, Doktor.«
Dee zögerte.
Abrahams rechte Gesichtshälfte verzerrte sich zu einem grässlichen Lächeln. »Nur jemand sehr Törichtes würde daran denken, jetzt eine Dummheit zu machen. Oder schlimmer: zu verhandeln versuchen.«
Der Doktor griff unter sein Hemd. Ein weicher Lederbeutel hing an einer Kordel um seinen Hals. Er zog daran und die Kordel löste sich. »Josh trägt die herausgerissenen Seiten in einem ähnlichen Beutel bei sich«, bemerkte Marethyu.
»Ich weiß. Ich bin heute erst dahintergekommen. Nicht zu fassen, dass er sie die ganze Zeit bei sich hatte. Wir waren so nah dran. Wenn er sie mir nur gegeben hätte, dann wäre jetzt alles anders.« Dee seufzte.
»Dein Leben war voller Enttäuschungen«, sagte Marethyu.
»Ist das sarkastisch gemeint?«
»Ja.«
»Ich musste etliche Enttäuschungen verkraften«, gab der Magier zu. Er griff in den Beutel und zog das kleine, in Metall gebundene Buch heraus. »Mein ganzes Leben lang war ich hinter diesem Buch her. Im Lauf der Jahrhunderte war ich mehrmals kurz davor, es in meinen Besitz zu bringen. Doch von dem Moment an, als ich es schließlich in den Händen hielt, wurde alles anders. Und dabei hätte es mein größter Triumph sein sollen.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Stattdessen lief von da an alles schief.«
Marethyu trat vor und nahm dem alten Mann das Buch aus der Hand. Er legte es auf seinen Haken und schlug den Deckel auf. Sofort loderten gelblich weiße Flammen auf, zischende Feuerbänder fielen auf den Boden und es regnete Funken wie bei einem Feuerwerk. »Es ist das Original«, stellte er fest.
Mit fast schmerzhafter Anstrengung hob Abraham seine goldene Hand und legte sie Dee auf die Schulter. »Doktor, hast du dir je die Zeit genommen zu überlegen, weshalb deine Jagd auf die Flamels nie von Erfolg gekrönt war? Weshalb sie immer kurz vor deinem Eintreffen entkommen konnten?«
»Natürlich. Ich dachte immer, sie hätten wieder mal Glück gehabt …«, begann er. Dann schüttelte er den Kopf. »Niemand hat so lange so viel Glück, nicht wahr?«
Marethyu klappte das Buch mit Schwung zu. Die Flammen auf seinem Haken erloschen. »Du warst nie dazu bestimmt, die Flamels und das Buch zu finden. Bis letzte Woche natürlich, als du den Anruf erhieltst und man dir die Adresse der Buchhandlung in San Francisco gegeben hat.«
»Das wart ihr?«, fragte Dee leise. Er blickte von Marethyu zu Abraham. »Ich dachte, ich arbeite für Isis und Osiris.«
Lachfältchen umspielten die blauen Augen des Todes. »Das tust du auch, aber manchmal arbeitest du – genau wie sie – für mich.«
KAPITEL
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