Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
wahren Gründe. Ich musste an den bei meiner Tochter und meinen Neffen so beliebten amerikanischen Horrorfilm „Final Destination“ denken: Der Teenager Alex hat eine düstere Vorahnung und steigt aus einem Flugzeug aus, das bereits zum Abflug nach Paris bereitsteht, einige seiner Mitschüler folgen ihm. Die Maschine explodiert, wie er es geträumt hatte, kurz nach dem Abflug in der Luft, alle Passagiere verlieren ihr Leben. Für Alex und die ihm gefolgten Mitschüler beginnt kein neues und unbeschwertes Leben, sondern ein verzweifelter Kampf gegen den Tod, der sich nach und nach und auf sehr skurrile Weise alle holt, die unberechtigterweise die Maschine verlassen haben. Alex und seine Freunde versuchen, dem Plan des Todes auf die Spur zu kommen, um ihn durchkreuzen zu können. Nur scheinbar und für eine kurze Zeitspanne können sie dem Tod entgehen. Trotz des tragischen Inhaltes und fehlenden Happy Ends hatte der Film großen Erfolg. Es war, wie meine Tochter mir erklärte, die auf die Spitze getriebene Art, wie man zu Tode kommen konnte, der zwar aussichtslose, aber nicht zum Heulen reizende Kampf der Teenager, ihr Bemühen, mit rationalen Mitteln dem Unerklärlichen auf die Spur zu kommen, das für die jüngeren Zuschauer den Reiz des Streifens ausmachte. Ich sah mir den Film zweimal an, es gab keine wirkliche Ideologie, niemand, der hinter dem Tod stand, keinen Gott oder Teufel, keine besondere Bestrafung für irgendwelche Taten. Ein einfaches und die Reihenfolge genau einhaltendes Abarbeiten von der auf der Liste stehenden Todeskandidaten, die ebenfalls aus keinem bestimmten oder vom Zuschauer nachvollziehbaren Gründen auf dieser Liste gelandet waren.
Wie alle Horrorfilme hatte er auch eine befreiende Wirkung, andere starben, man selbst saß zitternd, aber gesund und munter im Kinosessel und kaute Popcorn und erfreute sich seines Lebens. Aber Jessica war keine Filmfigur und ich saß in keinem Kinosessel. Das war die bittere und schmerzhafte Realität. Ich musste aufpassen, dass ich nicht tatsächlich in psychiatrischer Behandlung landete. Und wenn ich dann die Wahrheit erzählen würde, wäre mein Schicksal besiegelt. Als ich vor der Trauergemeinde stand, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, ich befände mich in einem Traum.
Einem Albtraum. Man sagt, die menschlichen Sinne seien trügerisch, was die Trägheit des Auges anbelangt, gab es dafür unzählige Beispiele, jeder Magier und Zauberkünstler baut seine Kunststücke auf dieser Unzulänglichkeit auf, Ähnliches galt für das Gehör. Und auch der Geruchs- und Geschmackssinn variieren nicht nur bei den einzelnen Menschen, sondern können die Existenz des Gehörten, Gerochenen oder Geschmeckten nicht verbürgen. Weder garantieren sie die Wahrheit noch die außerkörperliche Existenz der empfangenen Daten. Der scheinbar im Ensemble unserer Sinne unbedeutendste, der Tastsinn, ist der Einzige, der alle subjektiven Idealisten widerlegt, der uns die Realität beweisen kann. Wer beim Joggen mit zehn Stundenkilometern einmal gegen eine Laterne gelaufen ist, wird nie mehr an der Existenz von Dingen und Gegenständen außerhalb seines Bewusstseins zweifeln. Ich drückte meine Nägel der rechten Hand in die Haut meiner linken, bis sie rot und leicht blutig wurde. Ich war in keinem Traum. Ich musste, ob ich wollte oder nicht, erneut die Abschiedsworte für Jessica sprechen. Diese wenigen Minuten beschleunigten meinen begonnenen Haarausfall auf drastische Weise. Ich war aber, als ich die Bestattung überstanden hatte, weniger traurig als beim ersten Mal. Vielleicht stumpfen die Gefühle bei Wiederholung ab, mein Zustand hatte diesmal aber andere Ursachen, meine Trauer verschwand unter dem Mantel eines unbändigen Zorns. Ich hätte mit der Faust am liebsten auf den Tisch eingeschlagen. Ich wählte einen anderen Weg, um meinen angestauten Emotionen Luft zu machen. Ich streifte meinen Jogginganzug über, zog meine Turnschuhe an, steckte ein kleines Gedichtbändchen in die Tasche und lief ins Freie.
31. Kapitel
Ich hoffte, die frische Luft und das Laufen würden mir helfen, die Kopfschmerzen und meine angestaute Wut zu vertreiben. Nach einer Viertelstunde schnellen Laufens ließ der Druck hinter der Stirn auch etwas nach. Im Park sah ich eine leere Bank und entschloss mich, einige Minuten in der Sonne zu sitzen und Luft zu schöpfen und nachzudenken. Die anderen Parkbänke waren besetzt, zumeist von zwei oder drei älteren Damen, die angeregt miteinander
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