Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
und herzlichen verwandtschaftlichen Beziehungen, mit vielen guten Freunden, mit Erfolgen in der Schule, mit kleinen Hobbies und Freizeitinteressen, insbesondere der Liebe zur Musik, mit ersten Diskoerfahrungen, mit tollen Reisen in weit entfernte Regionen dieser Welt, mit dem ersten Verliebtsein, mit einer großen Geburtstagsfeier zum Sechzehnten, mit vielen Menschen, die ihr das Gefühl vermittelten, geliebt oder gemocht zu werden. Und sie selbst hat durch ihre freundliche, offene, warmherzige, lebensfrohe Art sich in diesen sechszehn Jahren schon selbst ein Denkmal gesetzt: ein Denkmal in allen Herzen und Seelen der Menschen, die heute voller Trauer von ihr Abschied nehmen und gleichzeitig dankbar dafür sind, dass sie diese Jahre mit ihr erleben durften. Wir werden Jessica nie vergessen!“
Viel mehr hätte ich nicht sagen können, die Stimme war belegt und hätte bald ihren Dienst versagt. Als ich einen Monat vor Jessicas Geburtstag von Monique gefragt wurde, was wir denn Jessica zu ihrem Geburtstag schenken könnten, gab es ein Stich in meinem Herz. Ich hatte auf diese Frage geantwortet: „Dass weißt du doch besser als ich. Frage doch Daniela, die kennt doch Jessicas Wünsche und Geschmack am besten.“ Jetzt wusste ich vor Betroffenheit nichts zu antworten. Ich zuckte nur mit den Schultern, was Monique als Desinteresse an den wirklich wichtigen Dingen des Lebens wertete. Mir fiel mein Vorsatz von 2001 ein: Egal wie vergeblich meine Bemühungen auch sein mochten, ich würde nicht tatenlos zu sehen, wenn Verbrechen verübt oder hoffnungsvolle junge Menschen „abberufen“ wurden. Ich würde dem moralischen Gesetz meiner praktischen Vernunft folgen, egal was sich daraus für empirische Folgen ergeben würden.
An dem Tag, als Jessica von ihren Eltern in die Charité gebracht wurde, rief ich den Oberarzt der Station an. Ich hatte mir im Internet über diese Form der Hirnhautentzündung Informationen verschafft. Jetzt musste ich eine halbwegs plausible Geschichte auftischen. Ich erzählte dem Arzt, dass in Kürze Freunde von mir mit ihrer schwerkranken Tochter zur Untersuchung kämen. Ich wolle ihn darauf aufmerksam machen, dass es sich vielleicht um keine einfache Grippe, sondern um eine spezielle Form der Hirnhautentzündung handeln könne. Ähnliche Symptome hätte ich bei einem Nachbarskind in Florida erlebt, die im Miami Hospital behandelt worden wäre. Er könne sich im Bedarfsfall mit den dortigen Ärzten telefonisch in Verbindung setzen und ihre Erfahrungen einholen. Er war zwar etwas verwundert über meinen Anruf und meinen Ratschlag, aber als Jessica eintraf, untersuchte er sie persönlich, und wie ich später erfuhr, setzte er sich tatsächlich mit den amerikanischen Ärzten in Verbindung.
Jessica kam sofort auf die Intensivstation, sie kämpfte drei Tage und Nächte lang mit dem Tod. Dann hatte sie ihn besiegt und die Ärzte der Charité konnten unseren Freunden mitteilen, dass ihre Tochter das Schlimmste überstanden hätte, ob es irgendwelche gesundheitliche Folgen oder mentale Einschränkungen geben würde, könne man zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Ich war voller Spannung und voller Misstrauen, aber nach zwei Wochen wurde sie entlassen und machte einen geistig klaren Eindruck. Eine Woche später konnte sie den Schulunterricht wieder aufnehmen und wir feierten mit unseren Freunden bis in die späte Nacht hinein. Abgesehen von meinem Langlauf nach meiner Rückkehr ins Jahr 1978 hatte ich mich seit dem Gebrauch der Sanduhr nicht so wohl gefühlt. Vielleicht war dies meine Aufgabe gewesen, eine Sechzehnjährige richtig behandeln zu lassen und ihr ein schönes und unbeschwertes und langes Leben zu ermöglichen. Ein langes Leben sollte es nicht werden.
Genau zwei Tage nach ihrem 17. Geburtstag bekamen wir die schreckliche Nachricht. Ihr älterer Freund, mit dem sie eine Diskothek in Strausberg besucht hatte, kam bei der nächtlichen Rücktour mit seinem Auto von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Beide jungen Leute sind noch an der Unfallstelle verstorben, lautete die polizeiliche Mitteilung. Ich mochte keine Kraftausdrücke, aber in diesem Augenblick schrie ich mindestens zehnmal ein Wort in den Himmel, das umgangssprachlich für den Inhalt von Kläranlagen Verwendung findet. Was sollte das alles? Monique rief mich nicht einmal zur Ordnung, als sie meine Flüche hörte. Sie war selbst betroffen und konnte meinen Wutausbruch verstehen, wenngleich nicht die
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