Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Charité. Man untersuchte sie, verabreichte ihr Medikamente und entließ sie nach kurzer Zeit wieder. Die Diagnose lautete: schwere, aber nicht gefährliche Grippe. Nur sechsunddreißig Stunden später stieg das Fieber auf fast 42 Grad Celsius, der gerufene Notarzt ließ sie ins Krankenhaus einweisen, doch noch auf dem Weg ins Krankenhaus hörte ihr Herz für immer auf zu schlagen. Man stellte bei der Obduktion eine seltene Form der Hirnhautentzündung fest.
Monique und ich waren so betroffen, dass wir unsere Trauer, Fassungslosigkeit und unser Mitgefühl nicht in Worte fassen konnten. Unser Beileid zu bekunden, erschien uns in dieser Situation banal. Wir saßen einige Stunden mit unseren Freunden schweigend auf der Couch. Manchmal kann Sprachlosigkeit mehr Mitgefühl demonstrieren als gut gemeinte Worte. Wir standen unter Schock, keiner konnte das Geschehen auch nur annähernd begreifen, wie in Trance regelten unsere Freunde die Bestattungsformalitäten und baten mich, einige Abschiedsworte für Jessica zu sprechen. Ich konnte nicht ablehnen, obwohl ich nicht wusste, was ich überhaupt sagen sollte und auch nicht sicher war, ob ich überhaupt ein Wort hervor bringen würde. Es wäre leichter, wenn unsere Freunde in der Kirche gewesen wären. Dann hätte ein Pfarrer über die Unergründlichkeit Gottes und seiner Entschlüsse und über die Auferstehung und ein Wiedersehen im Paradies gesprochen. Ich musste eine weltliche Rede halten, ohne auf die Möglichkeit eines späteren Wiedersehens mit dem geliebten Kind verweisen zu können. Mir wurde schlagartig bewusst, dass völlig unabhängig davon, ob es einen Gott gibt oder nicht, der Glaube an ihn in diesem Leben eine erhebliche Steigerung des Lebensgefühls bewirken und einen Anker bieten kann, den kein noch so über die Dummheit und Unwissenheit der Gläubigen mitleidig lächelnder Materialist oder Atheist zu bieten imstande ist. Mir fiel die Bemerkung meines Freundes Tommy ein, der bei unserer Diskussion zum Zeitempfinden es so treffend auf den Punkt brachte: „Wenn ich ernsthaft der naturwissenschaftlich-deterministischen Weltsicht folge und meine eigene Existenz mithilfe ihrer Begriffe reflektiere, spüre ich, dass unweigerlich ein gewaltiges depressives Potential freigesetzt wird. Mit anderen Worten, wir werden irgendwann verrückt oder zum Zyniker.“
Zum Zyniker hatte ich nicht den Charakter. Mir schien die erste Möglichkeit in greifbare Nähe gerückt zu sein. Ich wollte am liebsten die Kapelle gar nicht betreten. Aber dann dachte ich daran, wie die Eltern sich fühlen mussten. Ich hatte die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, meine Rede zu halten. Und in einer Form, dass sich Jessica gefreut hätte, wenn sie diese Worte hätte hören können und alle Trauernden wenigstens diesen Tag des Abschieds als einen würdevollen und dem liebevollen Wesen Jessicas angemessenen in Erinnerung behalten würden. Ich ging zum Rednerpult. Beim Anblick des Fotos, der vor ihrem Sarg aufgestellt war, kamen mir die Tränen. Ich wischte mit der rechten Hand schnell über das Gesicht. Dann schluckte ich kräftig und wartete auf das Einsetzen der Musik. Da Jessica alle CDs der Band „Die böhsen Onkelz“ gekauft und unzählige Male gehört hatte, wurde zum Anfang der Trauerfeier der Titel Nur die Besten sterben jung , gespielt. Viele von Jessicas Freundinnen und Klassenkameraden brachen in lautes, einige in hysterisches Weinen aus. Ich versuchte, nachdem ich meinen Herzschlag etwas beruhigt und den Kloß, der in der Kehle saß, hinunter gewürgt hatte, inhaltlich an die Liedzeile anzuknüpfen: „Die Böhsen Onkelz haben in ihrem Stück eine Weisheit der alten Griechen verarbeitet, die der Dichter Menander in dem Satz zusammenfasste: Wen die Götter lieben, der stirbt jung! Dieser Grundsatz mag zu einem den Jenseitsvorstellungen sowie dem Schönheitsideal der Griechen entsprochen haben, vor allem meinten sie damit, dass derjenige, der nach schönen Jugendjahren voller Kraft und Gesundheit, Abwechslung und Spaß, von den Göttern gerufen werde, das dem alles Unangenehme, das Altern, Krankheiten, Verluste, wachsende Beschwerden, Nöte, Sorgen, Enttäuschungen, der sogenannte Ernst des Lebens erspart bliebe, er nur das Spiel, die Leichtigkeit des Seins hat kennenlernen müssen. In diesem Sinne kann man sagen, dass Jessica ein leider nur und viel zu kurzes, aber doch sehr erfülltes und intensives Leben hatte. Ein Leben in familiärer Geborgenheit mit großer elterlicher Zuwendung
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