Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
plauderten. Ich vermied es, mich auf Bänke zu setzen, auf denen ältere Frauen oder Männer Platz genommen hatten. Zum einen erinnerte es mich zu sehr an die eigene Zukunft, was mich jetzt, angesichts des Besitzes der Sanduhr, allerdings nicht mehr berührte. Zum anderen hatte ich die Erfahrung gemacht, dass man höchstens ein bis zwei Minuten die Stille oder die Sonnenstrahlen genießen konnte, bevor eine nette Frage an einen gerichtet wurde und sofern man diese beantwortete, was ich als höflicher Mensch immer getan hatte, ein Monolog begann, der dazu führte, dass man innerhalb von zehn Minuten alle Ärzte der näheren und weiteren Umgebung und ihre Behandlungsmethoden kannte. Ich erfuhr von Krankheiten, deren Namen ich zuvor noch nicht einmal gehört hatte. Auch diesmal schien mir ein derartiges Schicksal bevorzustehen, denn ein älterer Mann, dessen etwas gebückter Gang, die faltige Haut und die spärlicher werdenden grau-weißen Haare auf über fünfundsiebzig Lebensjahre hindeuteten, nahm, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen, neben mir Platz.
Ich holte schnell ein kleines Reclam-Gedichtbändchen aus der Tasche meiner Joggingjacke und gab vor, mich in die Lektüre zu vertiefen. Der Mann lächelte nur. „Sie brauchen keine Angst zu haben, ich will Sie nicht stören. Ich will gar nichts von Ihnen, nicht einmal ein Gespräch. Aber ich denke, Sie werden etwas von mir wollen.“ Ich schaute von meinem Buch hoch und ihn ungläubig an. „Was sollte ich denn von Ihnen wollen?“
„Einen Rat, vielleicht. So wie Sie aussehen, scheinen Sie an einem Punkt angelangt zu sein, an dem man durchaus einmal die Lebensweisheiten älterer Menschen ins Kalkül ziehen sollte.“
Ich schlug mein Buch zu und steckte es ein. Er hatte mich neugierig gemacht. Die Erfahrungen der Sanduhrjahre hatten mich hellhörig werden lassen. Und an Zufälle glaubte ich schon lange nicht mehr. „Sie haben recht. Ich bin etwas verzweifelt. Ich weiß nicht mehr, wie es weiter gehen soll.“
Er nickte. „Das habe ich mir gedacht. Nun, am besten erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Ich bin sicher, es gibt für alles eine Lösung.“ Ich überlegte, ob ich ihm die Wahrheit erzählen sollte oder lieber eine etwas kürzere und glaubwürdigere Lebensgeschichte mit ähnlichem Schluss. Ich entschloss mich für die Vollversion. Vielleicht gerade, weil ich ihn nicht kannte, würde er mich wohl kaum ins Irrenhaus bringen können, zumal Aussage gegen Aussage stehen würde und er unter dem Demenzverdacht wohl schlechtere Karten hätte als ich mit meinem klaren und bislang von keinem angezweifelten Verstand. Er hörte aufmerksam zu, unterbrach mich nicht ein einziges Mal. Ich sah an keiner Regung, ob er mir glaubte oder meinte, einen Verrückten vor sich zu haben. Als ich bei der Schilderung meiner jetzigen Situation angelangt war, entdeckte ich das erste Mal ein Funkeln in seinen Augen. Er faltete kurz die Hände.
„Ich habe Ihnen einen Rat versprochen. Lassen Sie mich zuvor einiges aus meinem Leben berichten.“
O Gott dachte ich. Er hat gar nicht zugehört, sondern nur darauf gewartet, mir zwei Stunden lang seine Kriegserlebnisse zu schildern.“ Er schaute mich mit seinen recht jugendlich wirkenden Augen scharf an, und als ob er meinen Gedankengang erraten hätte, meinte er: „Ich werde Sie nicht mit Kriegserlebnissen langweilen, obwohl die alles andere als langweilig waren. Aber um Ihnen einen Rat geben zu können, der Ihnen wirklich hilft, müssen Sie verstehen, wo sein Ursprung liegt.“
„Ich bin Ihr geduldiger und interessierter Zuhörer“, erwiderte ich.
„Wissen Sie junger Mann, wie alt ich bin?“
„Bestimmt haben Sie die Siebzig gerade überschritten.“
Er lächelte. „Ich bin weit über achtzig Jahre alt, im nächsten Jahr werde ich den 85. Geburtstag feiern.“
Ich meinte anerkennend: „Da haben Sie sich aber gut gehalten, ich hätte Sie zehn bis zwölf Jahre jünger geschätzt.“
„Ich könnte Ihnen meinen Personalausweis zeigen, aber es ist mir ehrlich gesagt, nicht so wichtig, ob sie mir mein Alter abnehmen oder nicht. Es ist auch nicht mehr von Bedeutung, wenn man dieses Stadium erreicht hat, ob andere einen für jünger oder älter halten. Aber nun zu dem, was für Sie von Bedeutung sein könnte. Ich habe zwar keine Erfahrung mit einer Sanduhr gemacht, aber Ihre Situation verstehe ich trotzdem. Weil ich mich genauso gefühlt habe. Ich will Ihnen nicht meine gesamte Lebensgeschichte erzählen, nur soviel: Als ich jung
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