Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
ist.“
„Warum hat Gott den Teufel überhaupt zugelassen oder gar geschaffen?“
„Weil es sonst nur Stillstand gäbe, eine im Grunde tote Welt, eine Welt ohne Freiheit. Die Freiheit der Entscheidung und die Wahl des Weges sind erst dann gegeben, wenn es mindestens zwei Wege oder anders ausgedrückt, wenn es etwas zum Wählen gibt.“
„Sie meinen, der Mensch gewinnt erst durch die Existenz des Teufels seine Freiheit?“
„Das weiß Gott allein, aber dies sind meine beiden persönlichen Schlussfolgerungen: Die Welt ist nur so gut, wie wir sie machen. Und alle weltlichen Güter haben nur flüchtigen Charakter. Wer die Ewigkeit sucht, muss auch an die Ewigkeit glauben. Wer hingegen Gott leugnet oder für tot erklärt, muss nach Ersatz Ausschau halten. Der große russische Dichter Dostojewski hat es auf den Punkt gebracht: Wenn der Mensch Gott verstoßen hat, so beugt er sich vor einem Götzen. Ob dieser Götze nun Geld, Macht, Spiel oder wie auch immer heißen mag. Er kann nichts von dem bieten, was der Mensch wirklich braucht.“ Er schaute bei diesen Worten in den klaren blauen Himmel. „Und meine tiefste Überzeugung nach einem langen, erfahrungsreichen Leben lautet: Gott ist kein bloßer Zuschauer!“ Ich schwieg eine Minute und betrachtete das Vorbeiziehen einiger weißgrauer Wolken.
„Verraten Sie mir jetzt die Textstelle?“, fragte ich unvermittelt. „Natürlich, dafür bin ich hier. Ich möchte sie Ihnen besonders ans Herz legen. Sie sollten sie genau lesen und auf Ihre Situation anwenden. Dann macht Ihre Sanduhr vielleicht doch einen Sinn.“ Ich antworte diesmal nicht, sondern wartete auf seine Angaben. Mir fielen die Worte meiner Tante bei dem letzten Besuch im Krankenhaus ein, als sie mir die Familienbibel schenkte: „Wenn einmal der Tag kommen sollte, an dem du Hilfe brauchst, dann schau ruhig in dieses Buch, vielleicht findest du hier etwas Anregung, Rat und Halt.“ Die Augen des Alten ruhten einige Sekunden in einer Weise auf mir, dass meine Nackenhaare sich aufrichteten und mein Herz schneller schlug.
„Es handelt sich um den Psalm 37, Vers 5. Und nun möchte ich Sie nicht länger in Ihrer Buchlektüre stören. Leben Sie wohl und machen Sie das Beste aus Ihrer Sanduhr.“
Ich bedankte mich und wollte noch eine Frage stellen, aber er war erstaunlich schnell verschwunden, wirkte munter und schritt, ja lief fast zum Parkausgang, sein Gang wirkte viel jünger als bei seiner Ankunft. Das Gespräch mit mir schien ihm gut getan zu haben. Was es bei mir bewirkte, war noch fraglich. Zunächst schwirrten in meinem Kopf wieder einmal die zehntausend Bienen aus, ich hatte nur noch die Zahlen 37 und 5 im Sinn. Sollte dies ein Zufall sein? Die Übereinstimmung mit den Ziffern auf dem Boden meiner Sanduhr? Ich hatte erst geglaubt, es handele sich um die Herstellungszahl, dann kam mir die Idee mit der Seite eines Buches. Dieser Einfall kam der Wahrheit offensichtlich recht nahe. Psalm und Vers zusammengenommen ergaben 375.
32. Kapitel
Ich eilte mit schnellen Schritten nach Hause, kaum in der Wohnung angekommen, stockte ich für einen Augenblick, dann näherte ich mich pochenden Herzens dem Buchregal, das neben meinem Schreibtisch stand, und entnahm die Bibel, die mir meine Tante vor noch gar nicht langer Zeit vermacht hatte. Ich fand den Psalm 37 sofort. Vers 5 lautete: Befiehl dem Herrn deine Wege, und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen. So einfach sollte alles sein? Nur den eigenen Willen aufgeben, sich auf eine höhere Macht verlassen? Ein großer englischer Theologe schrieb einmal: Allein mit der Zeit erkennen auch die Jungen und Erfolgreichen gleich allen Menschen, dass Unabhängigkeit ein unnatürlicher Zustand ist, mit dem man eine Weile auskommt, dass diese Unabhängigkeit uns aber nicht heil bis ans Ende geleitet.
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, lautete Kants Aufforderung an das Menschengeschlecht und markierte den Höhepunkt der Aufklärung. Würde ich mein kritisches Denken aufgeben, in eine selbst verschuldete Unmündigkeit zurückkehren, indem ich akzeptierte, dass ich abhängig bin und ein anderer für mich den Weg bestimmt?
Nun, von einer Einstellung des Denkens konnte ich nichts lesen. Nur von einer Bereitschaft, etwas anzunehmen, was nicht allein und nicht vollkommen mit dem reinen Denken erschlossen werden konnte. Alles, seit dem 24. Dezember 2008 rückwirkend und zum Teil wiederholt Erlebte, überstieg dieses reine Denken. Bevor man an den
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