Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
diese auch immer verborgen sein mochten und hatten auf alle Fälle nichts mit der Nähe des Todes zu tun. Dachte ich zumindest. Meine Tante war agil wie immer, keineswegs niedergeschlagen oder ängstlich. Und doch hatte ich das Gefühl, das sie mich anders anschaute als früher. Sie holte aus ihrer Nachttischschublade eine schwarze abgenutzte Bibel hervor. Der Rücken war etwas angekohlt.
Von den Goldbuchstaben auf dem Deckel waren nur noch das „B“ und „i“ erkennbar, das lateinische Kreuz in der Mitte des Einbandes dagegen war noch recht gut erhalten. „Deine Großmutter hat mir dieses Buch zu meiner Konfirmation geschenkt“. Es hat mich mein Leben lang begleitet, es ist auch eines der wenigen Gegenstände, die ich damals aus der von Bomben zerstörten Wohnung retten konnte. Ich weiß, du bist nicht mehr in der Kirche, aber es hat einen literarischen und historischen Wert, sie wurde 1906 gedruckt und hat wunderschöne Illustrationen von Schnorr von Carolsfeld
Und sie stellt natürlich vor allem ein Familienandenken dar. Ich möchte sie dir schenken.“
„Warum willst du dich von ihr trennen? Du kannst sie mir doch nach deinem Tod vermachen. Und bevor der eintritt, feiern wir bestimmt noch deinen neunzigsten und vielleicht sogar hundertsten Geburtstag.“
Ich konnte ihr bei diesen Worten nicht in die Augen schauen. Sie lächelte bloß. „Das wäre schön. Aber ich gebe lieber zu Lebzeiten. Ich habe dir übrigens vor meiner Einlieferung etwas Geld überwiesen. Du wolltest dir doch schon immer einen Blüthner-Flügel kaufen.“
Mir standen die Tränen in den Augen. Ich wischte sie schnell mit den Fingern aus dem Gesicht und umarmte spontan meine Tante. Mein „Danke“ klang gepresst. Als ob ein Kloß meine Kehle zuschnürte. „Ach, nichts zu danken, das letzte Hemd hat keine Taschen. Du kannst dir natürlich auch etwas anderes kaufen, falls der Blüthner nicht mehr so reizvoll für dich sein sollte. Aber auf das Buch gib bitte gut acht. Vielleicht schenkst du die Heilige Schrift eines Tages deiner Tochter. Ich weiß, du glaubst nur an die Wissenschaft und Logik, aber denk daran, was dein verstorbener Onkel, und der war ein in jungen Jahren anerkannter Wissenschaftsjournalist, bevor er sich mehr der Welt des Sportes zuwandte, immer zu mir sagte: Wenn es wirklich darauf ankommt, nützt dir keine Wissenschaft! Vielleicht hat er damit recht gehabt. Wenn einmal der Tag kommen sollte, an dem du Hilfe brauchst, dann schau ruhig in dieses Buch, vielleicht findest du hier etwas Anregung, Rat und Halt.“
Ahnte sie, was geschehen war und noch geschehen würde, auch ohne eine Sanduhr umgedreht zu haben? Ich weiß darauf keine Antwort. Immerhin interpretierte ich dieses Gespräch und ihr Geschenk unter dem Gesichtspunkt dessen, was geschehen würde. Möglicherweise war es nur eine liebe Geste ohne jeden mystischen Hintergrund.
„Und“, fragte sie meine Frau, „was habt ihr heute noch vor?“
„Frank hat Kinokarten besorgt für eine Filmpremiere im Sony-Center.“
„Was wollte ihr euch denn ansehen?“
„Einen amerikanischen Actionfilm, eine Comicverfilmung. „Dark Knight“ heißt der Titel.
„Na, das wäre nichts für mich, ich bin für solche Filme zu alt. Da lob ich mir doch meinen Rühmann und Albers, da gab es nicht so viel Action (sie sprach dieses Wort unvergleichbar aus, es hörte sich an wie „Ääckschään“), aber es gab Unterhaltung, viel Spaß und geniale Schauspieler. Doch das ist meine altmodische Ansicht. Euch wünsche ich einen angenehmen Abend. Ihr müsst doch bestimmt noch nach Hause und euch umziehen. Macht das ihr wegkommt. Ihr habt genug Zeit für eure alte Tante geopfert.“
Meine Frau wehrte ab. „Du weißt, wir sind gerne bei dir. Aber du hast recht, wir müssen uns noch umziehen und außerdem unseren Kater versorgen.“ Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. „Was macht den euer Ortwin?“
„Orpheus, Tante Martha. Orpheus heißt er. Es geht ihm ausgezeichnet. Er ist keineswegs so müde, wie dies Katzen meist sind, er will den halben Tag lang spielen und beschäftigt werden. Dafür fehlt uns leider die Zeit.“
„Ihr solltet ihm vielleicht eine Katzendame besorgen. Dann hat er mehr Abwechslung als ihm lieb ist.“
Wir lachten. Es war ein befreiendes Lachen. Ich konnte die rührseligen Gedanken verdrängen und mich relativ unbefangen von meiner Tante verabschieden. Nur etwas länger als üblich fiel die Umarmung aus, und etwas fester. Mein Herz pochte auch anders
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