Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
ich jetzt nur noch knapp die Hälfte der ehemaligen Arbeitsstunden zur Fertigstellung und fand endlich Zeit, Bücher zu lesen, deren Lektüre ich immer wieder verschoben hatte. So verschlang ich die sieben Harry-Potter-Bände innerhalb von drei Wochen und konnte verstehen, warum sich viele Jugendliche für die Eroberung dieser Fantasie-Welt vom Analphabetentum verabschiedet hatten. Das Leben erschien mir nach dem Unfall lebenswerter denn je, ich habe jede Minute intensiv genossen, beim Kaffeetrinken schloss ich die Augen, jedes Glas Wein wurde zu einer längeren Verkostung, jeder Kino-, Theater- oder Konzertbesuch zu einem bewusst erlebten Höhepunkt.
In der zweiten Augustwoche fiel mir jedoch das bis dahin verdrängte baldige Ableben meiner Tante Martha ein. Ich hatte sie sehr gerne, nicht nur, weil sie mir, ohne darum gebeten worden zu sein, in einer schwierigen finanziellen Situation
hilfreich zur Seite gestanden hatte.
Natürlich wussten wir um ihr Alter und ihre Krankheit, aber wenn man einen Menschen gern hat, möchte man ihn nicht verlieren, egal welches Alter er erreicht hat oder wie krank er auch sein möge. Und bis zum 20. August lebte sie noch selbstständig, recht munter und ohne Schmerzen in ihrer eigenen Wohnung. Sie wurde auch nur wegen einer Routineuntersuchung ins Krankenhaus gebracht. Ich erinnerte mich an mein Verhalten beim ersten Mal. Ich schob den Krankenbesuch hinaus, weil ich dachte, es ginge ihr nicht so schlecht und ich könnte sie auch noch drei Tage später sehen. Für uns überraschend, hörte aber ihr Herz am 22. August für immer auf zu schlagen, während einer Darmspiegelung. Alle Reanimierungsversuche verliefen erfolglos. Diesmal wusste ich von der genauen Stunde des Todes. Und dies war eine völlig neue Erfahrung. Jeder weiß um den Tod, aber die Ungewissheit seines Eintretens macht dieses Wissen erträglich. Ich zögerte, ins Krankenhaus zu fahren. Ich wusste, es würde ein Abschied für immer sein. Was sollte ich sagen? Mit Todgeweihten zu sprechen ist in der Regel Krankenhaus- und Hospizmitarbeitern und Sterbehelfern vorbehalten. Letztere sind noch an einer Hand abzuzählen, werden aber wohl in einigen Jahrzehnten, wenn die Rentenkassen völlig geleert sind, zu einem starken, angesehenen und staatlich geförderten Berufsstand aufgestiegen sein.
Und um dies vorauszusagen, benötigte ich meine Sanduhr nicht.
Aber ich hatte wenig Erfahrung mit Sterbenden. Mit einem flauen Gefühl im Magen fuhr ich ins Hedwigskrankenhaus. Ich war meiner Frau dankbar, dass sie mich begleitete, gewissermaßen moralischen Beistand leistete.
Meine Tante war wie immer in ihrem Leben gut frisiert und achtete selbst unter diesen nicht alltäglichen Bedingungen auf ein gepflegtes Äußeres. Eine Dame einer vergangenen und langsam aussterbenden Zeit. Ich habe sie nie klagen gehört, nie verbittert gesehen, obwohl das Leben ihr große Herausforderungen und nach dem Zweiten Weltkrieg in Form von russischen Besatzersoldaten die schlimmste Erniedrigung ihres Lebens beschert hatte. Man muss das Leben nehmen, wie es ist, lautete eine ihrer Lebensmaximen. Es kann nicht immer die Sonne scheinen und bei schlechtem Wetter muss man halt gut vorbereitet sein. Mit dieser Vorbereitung meinte sie ihren christlichen Glauben. Sie verpasste keinen Sonntagsgottesdienst, der Pastor lobte sie als das treueste Schaf seiner kleiner werdenden Herde. Auf dieses, meines Erachtens doppeldeutige Lob, war sie sehr stolz und sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, an ihrem Gott zu zweifeln, trotz der vielen Verluste, die sie im Leben erleiden musste.
Ich beneidete sie ein wenig um ihre unerschütterliche Lebens- und Glaubenseinstellung. Sie war voller Freude uns zu sehen. „Ihr hättet doch nicht eure kostbare Zeit opfern müssen, um mich zu besuchen. Ihr habt doch so viel um die Ohren.“
Mir war ganz mulmig zumute, ich schämte mich, beim letzten Mal den Besuch verschoben zu haben. Egal, warum alles so gekommen und welche Macht dafür verantwortlich war, in diesem Augenblick war ich dankbar, wenigstens diesen Fehler korrigieren zu können. Wie viel unserer wenigen Zeit dachte ich, verschwendet man doch auf nebensächliche Dinge und wie wenig Zeit widmet man den wirklich wichtigen Dingen, nein nicht Dingen, sondern Personen, die uns nahestehen.
Man sagt, Menschen, die dem Tod vor Augen haben, besäßen ein zweites Gesicht. Ich kann dies weder bestätigen noch bestreiten, meine eigenen Fähigkeiten hatten andere Ursachen, worin
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