Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
als gewöhnlich. Morgen würde sie auf ihre letzte Reise gehen. Ich winkte vor dem Schließen der Zimmertür noch einmal kurz in Richtung Bett. Ich sah eine Träne in ihrem linken Auge. Mir war nicht unbedingt nach einem Kinobesuch zumute. Zumal ich den Film schon gesehen hatte. Aber meine Frau kannte ihn noch nicht oder erinnerte sich zumindest nicht mehr daran und vielleicht war Ablenkung genau das Richtige als Abschiedstherapie. Ich achtete beim Sehen auf Details, die mir bisher entgangen waren. Und ich sah den Film nun in Zusammenhang mit der Einschätzung, die Will Smith gegeben hatte. Er hatte gut beobachtet. Es war in der Tat eine Parabel um Gut und Böse und das Aufeinanderbezogensein beider. Gewissermaßen ein dialektisches Paar. Die schauspielerische Leistung von Heath Ledger war nicht zu überbieten. Er hatte seinen Platz in der Filmgeschichte erobert. Obwohl es sich angesichts meiner Erfahrung und Einsichten anbot, verzichtete ich auf eine Filmkritik. Sie wäre zu ernsthaft und anstrengend für die zumeist jungen Leser ausgefallen und ich wollte dem Redakteur, den ich gut kannte und in seinem Urteil schätzte, das Unbehagen einer Absage ersparen.
Was mich aber wirklich beunruhigte, war ein Datum, das vor der Filmvorführung mehrmals genannt wurde. Der 14. Juli. An diesem Tag wurde „Dark Knight“ erfolgreich in New York uraufgeführt.
Mein geheimnisvolles Treffen mit Will Smith fand Mitte Mai statt. Er kannte damals den Film schon. Ob er einer privaten Voraufführung beigewohnt hatte? Ich werde es wohl nie erfahren.
6. Kapitel
Eine Woche später fand in einer kleinen, spartanisch ausgestatteten, nur dreißig Personen Platz bietenden, Kapelle die Abschiedsfeier für meine Tante statt. Der Sarg stand in der Mitte des Raumes. Jeder Trauergast legte eine einzelne Rose auf den Sarg. Ich zählte fünfundzwanzig Gäste, fast alles Verwandte, mit Ausnahme von zwei Hausbewohnerinnen; die Freundinnen meiner Tante waren schon alle vor ihr verstorben. Neben dem Sarg stand ein kleines Pult aus altem Eichenholz mit einem eingeschnitzten Kruzifix. Der Pfarrer, auf den Tante Martha so große Stücke gehalten hatte und dessen treuestes Schäfchen sie gewesen war, ließ sich entschuldigen, er hätte an dem Tag einen anderen Termin wahrzunehmen. Er schickte einen Vertreter der Nachbargemeinde, der meine Tante nie kennengelernt hatte. Dementsprechend fiel seine Rede aus. Es handelte sich um eine Aneinanderreihung von Psalmen und Gebeten. Der Name meiner Tante wurde nur ein einziges Mal genannt, vor dem gemeinsamen Beten des „Vater unser“. Ich kannte den Ablauf schon, auch diesmal kochte ich vor Wut. Aber ich war vorbereitet und nicht gewillt, ohne eine Würdigung der Verstorbenen die Kapelle zu verlassen. Nach dem der Pfarrer das Pult verlassen und den in der ersten Reihe Sitzenden die Hand gedrückt und viel Kraft und Gottes Segen gewünscht hatte, erhob ich mich und ging zum Pult.
Alle schauten etwas überrascht und warteten gespannt auf meine Worte. „Liebe Familie, liebe Trauergäste, gestatten Sie mir an dieser Stelle ein ganz persönliches Wort. Ein Wort, das sich die Verstorbene mehr als verdient hat. Vor genau einer Woche waren Monique und ich noch im Krankenhaus und haben uns ein letztes Mal mit Tante Martha unterhalten können. Natürlich ahnten wir nicht, dass es ein Abschied für immer sein würde. Sie war an diesem Tag, nur zwanzig Stunden vor ihrem Tode, guter Dinge, hat mit uns geplaudert, war äußerst gepflegt, wie immer in ihrem Leben (ein zustimmendes Raunen ging durch die Reihen) und sie war großzügig wie immer. Ich habe in meinem Leben keinen hilfsbereiteren, großzügigeren und selbstloseren Menschen kennengelernt als unsere Martha. Jeder der hier Anwesenden hat im Leben ihre Freundlichkeit, Güte und Hilfsbereitschaft oder nachbarschaftliche Solidarität in der einen oder anderen Weise erfahren. An solcher Stelle gibt es normalerweise immer Dinge, die man lieber verschweigt, negative Eigenschaften, die man besser nicht erwähnt. Aber ich kenne niemanden, der auch nur ein einziges böses Wort aus ihrem Munde gehört hätte, oder nur eine Handlung nennen könnte, die kritikwürdig gewesen wäre. Und dies ist wohl das Beste und Tröstlichste, was man an einem solchen Tag des Abschieds einem Menschen bescheinigen kann. Sie hat mir, als ob sie ahnte, dass ihre Zeit bald abgelaufen sein würde, nicht nur Geld vermacht (ein noch lauteres Raunen ging durch die Reihen), sondern sie schenkte mir
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