Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
mit einem Studenten nach Berlin fährt und bei diesem wohnt und in die Familie aufgenommen wird – mit der Begründung es handelt sich um meine zukünftige Frau. Vielleicht wäre ich sogar überzeugend gewesen, aber es hätte doch vieler, mitunter fantasievoller Erklärungen bedurft und außerdem hätten wir uns auch der Sehnsucht beraubt und der darauf aufbauenden ersten Tage im Januar. Ich beließ es also bei einer kurzen, aber festen Umarmung. Vor dreißig Jahren hatte ich mich nur mit einem längeren Händedruck verabschiedet. Diesmal war ich etwas mutiger. Von dieser Umarmung zehrte ich die gesamte Bahnfahrt und träumte nachts davon. Beim ersten Mal träumte ich vom Händedruck und dem Berühren der Finger, jetzt war mein Traum noch schöner, denn Umarmung ist Umarmung und geht eben tiefer. Man konnte also doch etwas ändern. Und wenn es nur Kleinigkeiten waren, manchmal, so legte ich es einem meiner Hauptakteure in dem letzten von mir verfassten Drama in den Mund: „Manchmal erkennt man durch die kleinen die wirklich wichtigen Dinge und mitunter sind beide nicht einmal verschieden.“
Wenn ich auch nur den leisesten Zweifel gehabt hätte, die nächsten dreißig Jahre würden nicht nur Herausforderungen und neue Entscheidungen, sondern sehr viel Liebe und Zärtlichkeit bringen. Ich stieß am Heiligen Abend mit meinen Verwandten auf das Weihnachtsfest an und bedankte mich gleichzeitig im Stillen bei der nicht anwesenden Sanduhr und ihrem Erbauer für das neu gewonnene Leben.
9. Kapitel
In diesen Wochen kursierte ein alter Witz. Der Sozialismus besitzt nur vier ernst zu nehmende Feinde: den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter. In diesem Januar schlug der gefährlichste dieser Vier brutal zu: der Winter. Das Wetter verschonte auch das übrige Europa nicht, aber die DDR traf es besonders hart. Das gesellschaftliche Leben drohte zum Erliegen zu kommen, die Braunkohleförderung war kaum noch aufrechtzuerhalten und damit auch die Energieversorgung. Teile des Schienennetzes waren so stark eingefroren und unter so hohen Schneelawinen begraben, dass der Bahnverkehr auf vielen Strecken eingestellt werden musste. Schnee, Eis, Glätte und eine Kälte weit unter den Durchschnittstemperaturen bildeten eine wahre Herausforderung. Die DDR befand sich in einem Ausnahmezustand. Nach meiner Anreise, einige der Städteverbindungen wurden mit Hilfe von Armeekräften in Betrieb gehalten, wie auch die Braunkohle-Tagewerke als Hauptkampfplatz für die Nationale Volksarmee erklärt wurden und Zehntausende Soldaten nun Dienst an der Schaufel leisten mussten, wollte ich mich ins Anwesenheitsbuch des Wohnheimes eintragen. Doch dann fielen mir die fatalen Konsequenzen ein und ich verzichtete darauf, stellte meine Reisetasche ab, begrüßte Ahmed, der mir aufgeregt von der Verhaftung Martins erzählte, was mir natürlich bekannt war, ich aber mir nicht anmerken lassen durfte. Nach dem Gespräch nahm ich meine Reisetasche wieder mit mir und fuhr zur Zentralmensa. Dort war ich mit Monique verabredet. Vor dreißig Jahren war die Stunde dort für mich eine Pein, ich war mir nicht sicher, ob mein Eindruck tatsächlich so stark gewesen war, dass sie die Verabredung ernst meinte. Hinzu kamen die Witterungsbedingungen, viele Studenten konnten gar nicht anreisen, weil es keine funktionierenden Verkehrsverbindungen mehr gab. Diesmal war ich entspannt, ich holte mir einen Kaffee und las die Tageszeitung. Ich wusste, dass Monique sehr wohl von mir beeindruckt war und sich seit Tagen auf das Treffen mit mir freute. Die Strecke zwischen Erfurt und Leipzig war, zumindest an diesem Tag, auch noch befahrbar. Ich schaute auf die Uhr, in dreißig Minuten würde sie durch die Glastür treten und auf meinen Tisch zukommen. Ich wollte mir diesmal einen kleinen Spaß erlauben, völlig kindisch, wie ich heute zugebe, oder von männlicher Eitelkeit inspiriert. Die Spannung sollte erhöht werden, ich wollte meine Zukünftige einige Sekunden im Ungewissen darüber lassen, ob ich angereist wäre oder die Verabredung einhalten würde. Ich setzte mich um, konnte nun hinter dem Pfeiler erst gesehen werden, wenn derjenige, der mich suchte, die halbe Mensa durchquert hatte und direkt neben mir stand.
Als sie in die Mensa trat, sich im weiten Rund umschaute und ihr Blick immer ratloser, hilfloser und enttäuschter wurde, hielt ich es nicht mehr aus, stand auf und kam hinter meinem Pfeiler hervor und ging ihr entgegen. Ein Lächeln, mit solch einer Wärme,
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